Das Interdiözesane Datenschutzgericht hat seine lange erwartete Entscheidung zur Münsteraner Missbrauchsstudie veröffentlicht (IDSG 16/2023 vom 11. November 2024, rechtskräftig). Ein Betroffener sexualisierter Gewalt hatte sich dagegen gewehrt, dass seine Daten aus dem Verfahren zur Anerkennung erlittenen Leids ohne seine Einwilligung für das Gutachten zur Verfügung gestellt wurden und als Fallstudie darin veröffentlicht wurde.

Der Betroffene hat auf ganzer Linie Recht bekommen. In der Analyse der Entscheidung zeigt sich, dass das IDSG es sich zwar einerseits leicht machen konnte: Zu eindeutig war der Fall. Andererseits entwickelt das Gericht im Gesamt seiner Rechtsprechung zur Missbrauchsaufarbeitung einen differenzierten Ansatz, das erhebliche kirchliche Interesse an Aufarbeitung mit dem Schutz der Rechte der Betroffenen sexualisierter Gewalt zu vereinen.
Der Fall
Einsicht in die Anerkennungsakte ohne Einwilligung
Die ursprüngliche Beschwerde stammt von einem Betroffenen sexualisierter Gewalt. Gegenüber der Interventionsstelle des Bistums schilderte er im Rahmen des Verfahrens zur Anerkennung des Leids »im Einzelnen und mit detailhaften Angaben zur Vor- und Umfeldgeschichte sexuelle Übergriffe« eines Priesters. Dabei wurde ihm zugesagt, dass die Angaben ausschließlich für das Antragsverfahren verwendet würden und insbesondere nicht Dritten gegenüber zugänglich gemacht werden.
Die Anerkennungsakte wurde im Rahmen der Aufarbeitungsstudie der durchführenden Universität anonymisiert zur Verfügung gestellt. Die Forschungsgruppe hatte das für nötig befunden, um die Anerkennungsakten mit anderen Unterlagen abzugleichen. Gegenüber dem Projektbeirat sei versichert worden, dass aus den Anerkennungsakten nicht zitiert werde. Der Interventionsbeauftragte hatte vorgeschlagen, in diesen Fällen die Einwilligung der jeweiligen betroffenen Person einzuholen. Später wurde allerdings vom Interventionsbeauftragtn und dem Sprecher des Beirats befürchtet, bereits das Einholen der Einwilligungen könne retraumatisierend wirken, so dass am Ende der Kompromiss gefunden wurde, dass der Forschungsgruppe die Anerkennungsakten »nach Schwärzung der Namen, Adressen, Geburtsdaten, telefonischer und sonstiger Erreichbarkeiten und Kontoverbindungen der betroffenen Personen zur Einsicht in den Räumlichkeiten der Interventionsstelle zur Verfügung gestellt würden«.
Veröffentlichung als Fallstudie im Missbrauchsgutachten
In der Aufarbeitungsstudie erscheint der Fall des Beschwerdeführers als Fallstudie »unter Nennung von Details zur Art und Weise, von Ort und Zeit der Begegnungen und der Einzelheiten des vom Beigeladenen traumatisch erlebten Wiedersehens nach vielen Jahren an mehreren Stellen aufgegriffen«. Diese Schilderung habe im wesentlichen auf der Anerkennungsakte basiert, insbesondere enthielt die Fallstudie drei wörtliche Zitate daraus. Die Fallstudie führte zu einer Berichterstattung in der Lokalpresse.
Beschwerde bei der Datenschutzaufsicht
Daraufhin erhob der Betroffene Beschwerde bei der katholischen Datenschutzaufsicht und begründete sie damit, dass die Veröffentlichung ohne hinreichende Anonymisierung und vorherige Information erfolgt sei, außerdem verstoße die Weitergabe gegen die Zusicherung der Interventionsstelle. Unabhängig davon hat das Bistum als verantwortliche Stelle den Fall als Datenpanne an die Aufsicht gemeldet.
Die Datenschutzaufsicht hat dem Betroffenen recht gegeben. Tatsächlich habe es an einer Rechtsgrundlage für die Weitergabe gefehlt, außerdem sei die Anonymisierung unzureichend gewesen: Über die vorgenommenen Schwärzungen hinaus wäre es nötig gewesen, »die ausführlichen Schilderungen des Beigeladenen um die individuellen Umstände zu reduzieren, das bedeute, Randinformationen zu schwärzen, die für das Gutachten auch nicht von Belang gewesen wären«. Eine gerechtfertigte Zweckänderung nach § 6 Abs. 6 KDG zu wissenschaftlichen Zwecken habe nicht vorgelegen, da »das kirchliche Interesse an der Durchführung des Forschungsvorhabens das Interesse der betroffenen Person hier nicht erheblich überwiege«. Eine Einwilligung zu erheben sei ununmgänglich und angesichts der Art der Daten nicht unverhältnismäßig.
Der Bescheid vor dem IDSG
Rechtsmittel des Bistums
Das Bistum legte Rechtsmittel gegen den Bescheid ein: Die Anforderungen an die Anonymisierung seien zu hoch. Tatsächlich seien gar keine personenbezogenen Daten weitergegeben worden, da durch die vorgenommene Anonymisierung der Anwendungsbereich des Datenschutzrechts gar nicht eröffnet sei. Die Forschungsgruppe hatte keine Möglichkeit einer Reidentifizierung der anonymisierten Daten. Hilfsweise, wenn es doch personenbezogene Daten sein sollen, sei die Verarbeitung gerechtfertigt: Gemäß § 6 Abs. 3 KDG liege bei der Nutzung für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke gar keine Zweckänderung vor, damit habe eine Rechtsgrundlage vorgelegen, ganz hilfsweise wäre bei einer Zweckänderung die Weitergabe immer noch zulässig, weil die Verarbeitung gemäß § 6 Abs. 4 KDG mit den ursprünglichen Zwecken vereinbar wäre, und »äußerst hilfsweise« greife § 6 Abs. 6 KDG dann doch.
Die Interessenabwägung schilderte das Bistum so:
Das berechtigte Interesse an der wissenschaftlichen Studie folge zum einen aus dem Interesse an der Aufarbeitung der Missbrauchstaten, zum anderen aus dem Zweck, in Zukunft Missbrauchstaten zu verhindern bzw. einzudämmen. Die Wissenschaftler seien zwingend auf die Schilderung zum eigentlichen Tathergang, d. h. die historische Fallschilderung, angewiesen, um zu erklären, wie es zum Missbrauch kommen konnte, und um Rückschlüsse für die Verhinderung von Missbrauchstaten zu ermöglichen. Die Aufklärung solle gerade den Interessen der Betroffenen dienen. Durch eine vollständige Anonymisierung der Anerkennungsakten, die möglicherweise auch Hinweise auf Tatzeiten und Tatorte betroffen hätte, wäre es unter Umständen zu Einschränkungen der Verwertbarkeit gekommen. Wenn dann die Forscher die Unbrauchbarkeit wesentlicher Teile der Akte attestiert hätten, hätte das für erneute Kritik sowohl bei Betroffenen als auch in der Öffentlichkeit gesorgt, die hohe Erwartungen an die Vorlage und die Inhalte von Missbrauchsgutachten habe.
Erwiderung der Datenschutzaufsicht und des Betroffenen
In ihrer Stellungnahme betonte die Datenschutzaufsicht, dass es ausschließlich um den Umgang mit den personenbezogenen Daten des Betroffenen gehe, nicht um die Aufarbeitung an sich. Für den Bescheid seien im Einzelfall die Interessen des Bistums und des Betroffenen abgewogen worden, und im Ergebnis sah man eine Einwilligung als angemessene Rechtsgrundlage.
Der Betroffene selbst betont, dass das Bistum sich an die Zusage der unbedingten Geheimhaltung hätte halten müssen. Die detaillierte Schilderung des Tathergangs sei für viele aus seinem damaligen Umfeld und seiner Familie hinreichend auf ihn zurückzuführen. Dazu trage auch die Schilderung unnötiger Details bei.
Die Entscheidung des IDSG
Das IDSG hat der Datenschutzaufsicht und damit mittelbar dem Betroffenen uneingeschränkt rechtgegeben: Der Antrag des Bistums wird als unbegründet zurückgewiesen.
Durch die Akteneinsicht habe das Bistum besondere Kategorien personenbezogener Daten verarbeitet, konkret Daten zum Sexualleben:
Daten zum Sexualleben sind nicht erst dann gegeben, wenn es um intime Details des Sexualverhaltens geht. Schon Schilderungen, Vermerke, Anzeigen, in denen, wie bei den in Rede stehenden Angaben zum Antragsteller, ein erlittenes Sexualverhalten thematisiert wird, enthalten Daten auch zum Sexualleben der betroffenen Person.
Die vorgenommene Anonymisierung sei »lediglich formal« erfolgt, der Personenbezug bestehe fort. Das gelte schon deshalb, weil das Bistum die Zuordnung ohne weiteres vornehmen könne. Eine Anonymisierung liege tatsächlich nicht vor, da auch die Forschungsgruppe eine Zuordnung vornehmen konnte und die Anerkennungsakte mit Interventions- und Personalakten abgleichen konnte. Im Beschluss führt das Gericht aus, wie anhand der Schilderungen eine Zuordnung möglich ist.
Das Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen habe besonderes Gewicht, weil ihm ausdrücklich zugesichert wurde, die Akte nicht weiterzugeben. Die Akteneinsicht bewertet das Gericht als Zweckänderung: Ursprünglicher Zweck war das Anerkennungsverfahren, neuer Zweck die Aufarbeitung. Beim Anerkennungsverfahren gehe es um einen von vornherein beschränkten Zweck, »anders als etwa die Datenerhebung zur Führung einer Personalakte«. Verletzt sei auch der datenschutzrechtliche Grundsatz, dass Daten nachvollziehbar verarbeitet werden müssen: » Aufgrund der einschränkungslosen Zusage blieb kein Raum für eine Mutmaßung des Adressaten, der Antragsteller könne sich unter bestimmten Umständen im Rahmen einer Abwägung darüber hinwegsetzen.«
Wie es ohne die Zusage der Geheimhaltung zu bewerten wäre, musste nicht geprüft werden. Das Gericht deutet aber Überlegungen zum kirchlichen Interesse an: Unter Verweis auf die IDSG-Entscheidung zur Verwendung von Personalakten eines Beschuldigten zur Aufarbeitung unterscheidet das Gericht zwischen Beschuldigten und Betroffene sexualisierter Gewalt. In der Entscheidung hatte das IDSG ein erhebliches kirchliches Interesse an der Aufarbeitung festgestellt. Es sei aber » zweifelhaft, ob es das Interesse des Betroffenen eines Missbrauchs an der Geheimhaltung seiner im Verfahren auf Anerkennung des Leids gegebenen persönlichen Schilderung gegenüber den mit der Aufarbeitung betrauten Wissenschaftlern erheblich überwiegt«. Im Ergebnis sieht auch das IDSG nur eine Einwilligung als zulässige Rechtsgrundlage an.
Bewertung
Jetzt, wo der Fall anhand der Entscheidung deutlich ausführlicher bekannt ist als zuvor nur aus den Pressemitteilungen des Bistums Münster (auf der Grundlage der ersten Pressemitteilung hatte ich schon 2023 dazu etwas geschrieben), wirkt die Entscheidung nachvollziehbar und geradezu zwingend: Dass bei einer ausdrücklichen Zusicherung von Geheimhaltung eine andere Rechtsgrundlage als eine Einwilligung greifen könnte, wirkt so eher abwegig. Dass das Bistum auf die Anrufung der zweiten Instanz verzichtet hat, scheint folgerichtig.
Spezielle Aufarbeitungsnormen spielten in der Entscheidung keine Rolle. Die gibt es in Münster bis heute nicht. Insofern ist der Fall kaum vergleichbar mit den Aufarbeitungsprozessen in der Mehrheit der deutschen Diözesen, wo es mittlerweile klar geregelte Rechtsgrundlagen für die Verwendung von Aktenbeständen für die Aufarbeitung gibt. Die Ordnung für das Verfahren zur Anerkennung des Leids enthält keine Aufarbeitungsnorm und kennt als Zweck ausschließlich die Verantwortungsübernahme der Kirche für begangene Taten durch Anerkennungsleistungen.
Die geschilderten Überlegungen im Bistum zeigen den Drahtseilakt, vor dem Bistümer in einer betroffenenorientierten Aufarbeitung stehen: Nicht aus Gedankenlosigkeit wurde das Vorgehen gewählt, sondern um eine Retraumatisierung durch die Einholung von Einwilligungen zu verhindern – was in diesem Fall völlig nach hinten losgegangen ist. Hier zeigt sich, dass die kirchlichen Gesetzgeber gut daran täten, die von Betroffenenvertretungen wiederholt geäußerte Forderung nach einer Einwilligung für die Nutzung von Betroffenendaten ernst zu nehmen.
Die Entscheidung zeigt, dass das Gericht sensibel differenzieren kann: Die Belange von Betroffenen sexualisierter Gewalt werden anders bewertet als die Belange von Beschuldigten und Tätern, obwohl beide im datenschutzrechtlichen Sinne Betroffene sind. Zusammen mit der Entscheidung zum Kölner Gutachten – die vom selben Kollegium gefasst wurde – ist damit eine Grundlage vorhanden, auf der Aufarbeitung unter Berücksichtigung der jeweiligen Belange gelingen kann.
Ein sehr komplexes und auch im weltlichen Bereich wiederkehrendes thema im Bereich des Datenschutzes.
Insbesondere im Rahmen der Aufarbeitung von Geschehnissen ist es häufig so das diese Abwägung erfolgen muss und auf der einen Seite, der Schutz der eigenen Persönlichkeit und Gesundheit der Betroffenen im Vordergrund steht, auf der anderen Seite aber auch das Interesse des Verantwortlichen und der Öffentlichkeit an eine nachvollziehbaren Darstellung von Geschehnissen ein wichtiger Punkt ist. Hier spielen teilweise personenbeziehbare Daten bei der Detailschilderung eine wichtige Rolle. Von daher ist die Abwägung und ggf. auch damit verbundene Schwellwertanalyse und Datenschutzfolgeabschätzung ein immer wieder wichtiger Punkt. Wie schon geschrieben ist eine ggf. mögliche Re-Traumatisierung hier in meinen Augen ein maßgeblicher Faktor. Betroffene um eine Einwilligung zu fragen ist in meinen Augen ein ebenfalls gangbarer Weg, wobei dann aber auch eine umfassnede Information der Betroffenen im Rahmen der Einwilligung notwendig ist.
Nur so kann die notwendige Transparenz und Information für eine rechtsgültige Einwilligung hergestellt werden.
Gerade die teilweise gute Begründung des Gerichts ist hier mittlerweile ein wichtiger Maßstab.