Das Interdiözesane Datenschutzgericht hat erstmals eine Entscheidung zu einer grundlegenden Frage der kirchlichen Missbrauchsaufarbeitung veröffentlicht. Der Beschluss IDSG 16/2021 vom 24. Februar 2024 stellt auf die Klage eines im Kölner Gercke-Gutachten anonymisiert erwähnten Beschuldigten hin fest, dass Missbrauchsaufarbeitung ein erhebliches Interesse der Kirche darstellt, hinter dem Datenschutzrechte der Beschuldigten gegebenenfalls zurücktreten müssen.
Die Entscheidung ist eine der längsten des IDSG bisher, so dass neben der grundsätzlichen Frage auch noch viele weitere Themenbereiche gestreift werden – von der Frage, ab wann Daten das Sexualleben so betreffen, dass sie zu den besonderen Kategorien gehören, bis zum Verhältnis von datenschutzrechtlichen Betroffenenrechten und kirchlichem Prozessrecht.
Der Fall
Der Kläger ist ein Priester eines Erzbistums, gegen den Vorwürfe sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und grenzüberschreitenden Verhaltens vorliegen. Er wendet sich gegen die Verwendung seiner Daten im Zusammenhang mit der Aufarbeitung, insbesondere mit Blick auf die Veröffentlichung in einem Gutachten, aber auch in der Presse. Aus der Schilderung eines Vorwurfs lässt sich schließen, dass es sich wohl um einen aus den Medien bekannten Fall aus dem Erzbistum Köln handelt, außerdem ist durch die Umstände und die wörtlichen Zitate klar, dass es sich beim als Yy-Gutachten bezeichneten Gutachten um das Kölner Gercke-Gutachten handelt.
Der Streit ist umfangreich. Mehrere Verfahren wurden vor’s IDSG gebracht, davon eins erledigt, weitere wurden mit dem vorliegenden zusammengelegt. Streitgegner sind das Erzbistum und die Datenschutzaufsicht. Der Kläger wollte insgesamt 19 Forderungen vor dem IDSG durchsetzen: Es geht – verkürzt – um Löschpflichten, Einsichtsrechte, Datenübermittlung in Drittstaaten (ans Glaubensdikasterium), Daten aus dem kanonischen Verfahren und Unterlagen, die ihren Weg in die Presse gefunden haben.
Antragsgegner
Vortrag des Erzbistums
Das Erzbistum brachte vor, dass die Aufarbeitung des Missbrauchs für die Kirche höchste Priorität habe. Die Anfertigung des Aufarbeitungsgutachtens sei daher »von ganz besonderem und schutzwürdigem sowie überwiegendem Interesse«.
Außerdem sei die Anonymisierung im Gutachen ausreichend gewesen: »Dass Personen, die in den dort geschilderten Sachverhalten ebenfalls (anonymisiert) beschrieben würden, den Antragsteller deshalb wiedererkennen würden, weil sie den Sachverhalt als unmittelbar Beteiligte bereits kennten, führe nicht zu einer allgemeinen Erkennbarkeit. Entscheidend sei nämlich der durchschnittliche unbefangene Leser ohne spezielles Insider- oder Sonderwissen.«
Vortrag der Datenschutzaufsicht
Die Aufsicht begnügte sich mit Verweisen auf ihre Bescheide. Teilweise wurde die Argumentation im Sachverhalt dargestellt. Eine Beschwerde wurde von der zuständigen Datenschutzaufsicht angenommen, die Aufsicht wies das Erzbistum an, Auskunft zu erteilen. Die Drittlandübermittlung in den Vatikan monierte die Datenschutzaufsicht nicht: »In diesem Einzelfall ergebe sich die Erforderlichkeit der Mitteilung an die Kongregation kirchenrechtlich aus Art. 16 des päpstlich erlassenen Motuproprio Sacramentorum sanctitatis tutela (SST) und stelle einen wichtigen Grund im Sinne der Ausnahmeregelung des § 41 Ziffer 4 KDG dar. Hier überwiege das kirchliche Interesse an der Drittlandübermittlung der personenbezogenen Daten des Antragstellers dessen schutzwürdige Interessen.«
Die Entscheidung
Erfolg hatte der Antragsteller lediglich mit Blick auf die Einsichtsrechte (Rn. 68–70) außerhalb kanonischer Verfahren sowie mit seiner Beschwerde über mangelnde technisch-organisatorische Maßnahmen, die dazu führten, dass Aktenbestandteile in der Presse veröffentlicht wurden. Das Gericht legt aber dar, dass die Möglichkeit des Durchstechens nicht notwendig eine Datenschutzverletzung des Erzbistums war: Aus dem Durchstechen an die Presse lasse sich eine Verwirklichung eines Risikos ableiten, nicht aber notwendig ein Versäumnis bei technisch-organisatorischen Maßnahmen. Das Erzbistum hat aber versäumt, darzulegen, welche Maßnahmen gegen eine unzulässige Offenlegung ergriffen wurden (Rn. 74–76).
Zentral für die Argumentation ist das erhebliche kirchliche Interesse an der Aufarbeitung, nämlich »das Handeln und Unterlassen der Kirche in Bezug auf Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs sorgfältig durch fachlich Unabhängige untersuchen zu lassen und Untersuchungsvorgang wie -ergebnis zu veröffentlichen«. Insbesondere wird eine Rechtsgrundlage im kirchlichen Recht gefunden: »Das Gebot der Aufklärung und Aufarbeitung besteht auf der Grundlage der Pflicht des Bischofs nach can. 391 § 1 CIC, seine Leitungsvollmacht nach Maßgabe des Rechts auszuüben und dabei gemäß can. 383 § 1 CIC alle ihm anvertrauten Gläubigen ohne Ansehen der Person gleich zu behandeln, um der Wahrung der Würde von durch Missbrauch und Vertuschung Betroffenen (vgl. can. 208 CIC) willen und aus wohlverstandener Kirchenraison, die auf Erfüllung des von Jesus Christus mit Einsetzung der Kirche gegebenen Auftrags gerichtet ist.«
Weitere Anträge blieben ohne Erfolg, obwohl einige Punkte des Antragstellers akzeptiert wurden:
- Die Überlassung von Akten zur Gutachtenerstellung statt bloßer Einsicht ist zulässig. Abgehoben wird vor allem darauf, dass eine Anwaltskanzlei als Organ der Rechtspflege die Erfordernisse des Datenschutzrechts erfüllt (Rn. 60).
- Einschlägig ist das erhebliche kirchliche Interesse als Ausnahme vom Verarbeitungsverbot für besondere Kategorien personenbezogener Daten. Diese Kategorie sei aber eröffnet gewesen (entgegen der Argumentation des Erzbistums). Daten zum Sexualleben sind bereits dann gegeben, wenn »ein sexuell bestimmtes Verhalten einer Person thematisiert wird«, nicht erst bei der Schilderung intimer Details.
- Die Anonymisierung im Gutachten wird als lediglich formal betrachtet, es besteht ein Personenbezug. Allerdings schlägt für das Gericht hier wieder die Erforderlichkeit der Verarbeitung für die Wahrnehmung einer im kirchlichen Interesse liegenden Aufgabe. Das wird detailliert erläutert (Rn. 52–59).
- Die Anonymisierung der an die Kanzlei gegebenen Akten wäre zu aufwendig gewesen, die nicht geschwärzten Akten notwendig für die Erfüllung des Gutachterauftrags. (Rn. 60)
- Auch die Veröffentlichung des Gutachtens ist durch ein erhebliches kirchliches Interesse gedeckt (Rn. 61).
- Mit Blick auf die Personalakte ist eine Löschung ist nicht angezeigt, die Datenhaltung entspricht insbesondere den Regelungen der Personalaktenordnung (Rn. 71–73).
- Anträge mit dem Ziel eines Feststellungsantrags, der die Pflicht zur Unterlassung der Verbreitung unrichtiger personenbezogener Daten begehrt, sind unzulässig: Feststellungen dürfen sich nur auf geschehene Datenschutzverletzungen beziehen (Rn 73).
- Alle Anträge, die das kanonische Verfahren betreffen, sind unzulässig (Rn. 77). Das kirchliche Datenschutzgericht ist nicht zuständig für die Überprüfung der universalkirchlichen Bestimmungen über den kanonischen Strafprozess. Damit ist das Datenschutzrecht auch nicht für kanonische Voruntersuchungen zuständig, einschlägig ist c. 1717ff. CIC für die Rechte bei einer Voruntersuchung sowie c. 1720 CIC für die Akteneinsicht, nicht das KDG.
Fazit
Der noch nicht rechtskräftige Beschluss dürfte eine wichtige Grundsatzentscheidung für die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs sein. (Ob Rechtsmittel eingelegt wurden, ist noch nicht bekannt, die Frist dafür sind drei Monate, sie läuft also noch.) Ausführlich und klar stellt sie fest, dass an der Aufarbeitung ein erhebliches kirchliches Interesse besteht, hinter der die Interessen von Beschuldigten und Tätern in der Regel zurückstehen müssen. Sollte die Entscheidung Bestand haben, ist damit in erheblichem Maß Rechtssicherheit hergestellt für Aufarbeitungs-Gutachten der Bistümer: Auch eine verhältnismäßig einfache Deanonymisierung von Beschuldigten und Verdächtigten wäre dann kein Hindernis für eine Veröffentlichung der Gutachten. Dass diese Deanonymisierung einfach möglich ist, zeigt die Entscheidung selbst, die für Menschen, die ddas Gercke-Gutachten und die Berichterstattung darüber verfolgt haben, ohne weiteres, und für alle anderen mit minimalem Suchaufwand möglich ist.
Im vorliegenden Fall wurde stark darauf abgehoben, dass eine Rechtsanwaltskanzlei wegen der besonderen Vertrauensstellung von Anwält*innen besondere Sicherheiten bietet und so dem geforderten Schutzniveau Genüge getan wird – interessant dürfte sein, ob vergleichbare Fälle, in denen die Aufarbeitung nicht von Kanzleien übernommen wurde (anderswo sind Historiker*innen, Human- oder Sozialwissenschaftler*innen beauftragt worden), in gleichem Maß eindeutig entschieden werden.
Wichtig ist die Entscheidung zum kanonischen Prozessrecht: Hier stellt das Gericht klar, dass es nicht zuständig ist. Das kirchliche Datenschutzrecht ist kein Einfallstor, um über diesen Hebel der kirchlichen Datenschutzgerichtsbarkeit eine Überprüfung angrenzender Rechtsgebiete zu ermöglichen. Das ist rechtssystematisch nachvollziehbar und überzeugend, auch wenn es insofern misslich ist, als dass es ansonsten an gerichtlichen Rechtsbehelfen mit rechtsstaatlichen Standards in der Kirche fehlt. Auf der Grundlage dieser Entscheidung dürfte es sehr schwer werden, datenschutzrechtliche Betroffenenrechte in der kirchlichen Justiz geltend zu machen – wenn das umfassend gilt, sollte das eine große Erleichterung für die Offizialate sein.
Geklärt ist jetzt endlich die Drittstaaten-Frage: auch nach der Inkraftsetzung des vatikanischen Datenschutzgesetzes bleibt der Vatikan ein Drittstaat, die Kurie sogar ganz ausgenommen von Datenschutzrecht. Dennoch sind Datenübermittlungen auf Grundlage des Universalkirchenrechts an den Vatikan nach dieser Entscheidung datenschutzrechtlich unproblematisch.