Lebenswichtig, berechtigt, kirchlich: Interessensgrundlagen im kirchlichen Datenschutz

Eines der großen Rätsel des kirchlichen Datenschutzes bleibt die Rechtsgrundlage des »kirchlichen Interesses«. Seit hier vor drei Jahren erstmals versucht wurde, das kirchliche Interesse handhabbar zu machen, ist einiges passiert: zumindest im katholischen Bereich Rechtsprechung, dazu kommen Positionen von kirchlichen Aufsichten.

Eine alte Balkenwaage
Interessen abwägen ist anspruchsvoll. Erst recht im kirchlichen Datenschutz (Foto von Piret Ilver auf Unsplash)

Doch nicht nur das kirchliche Interesse stellt eine Besonderheit im kirchlichen Datenschutz dar: Generell sind die drei Interessens-Rechtsgrundlagen (lebenswichtige, berechtigte und kirchliche Interessen) hochgradig praxisrelevant und dabei in der Anwendung nicht immer klar. Daher soll nun nach drei Jahren versucht werden, eine neue Positionsbestimmung vorzunehmen.

Lebenswichtiges Interesse

Die Verarbeitung auf der Grundlage von lebenswichtigen Interessen ist die wohl am seltensten angewendete Rechtsgrundlage. Dass auch die kirchlichen Gesetzgeber hier nicht die höchste Priorität für kreative Gesetzgebung gesehen haben, zeigt sich in den Formulierungen: § 6 Abs. 1 lit. e) KDG, § 6 Nr. 7 DSG-EKD lauten gleich wie Art. 6 Abs. 1 lit. d) DSGVO: »die Verarbeitung ist erforderlich, um lebenswichtige Interessen der betroffenen Person oder einer anderen natürlichen Person zu schützen«

Daher kann man den Erwägungsgrund 46 der DSGVO auch im kirchlichen Datenschutz heranziehen: Die Rechtsgrundlage soll dann gezogen werden, wo offensichtlich keine andere Rechtsgrundlage möglich ist. Im Erwägungsgrund wird zwar auf die Anwendung für humanitäre Zwecke, insbesondere die Überwachung von Epidemien und deren Ausbreitung sowie humanitäre Notfälle, insbesondere bei Katastrophen, abgehoben. In der Praxis hatte das aber wenig Relevanz: Die Corona-Pandemie war jedenfalls nicht die Stunde der lebenswichtigen Interessen; mit Einwilligungen, Gesetzen und berechtigtem Interesse hat man quasi alles abdecken können.

Die Faustregel für die Anwendung des lebenswichtigen Interesses ist daher: Es kommt immer dann zum Tragen, wenn eine Einwilligung erforderlich wäre, sie aber nicht gegeben werden kann. Je bewusstlos, desto lebenswichtiges Interesse.

Das IDSG hatte bisher einen Fall zu entscheiden, in dem es die Rechtsgrundlage zugrunde legte: Es ging um die Weitergabe von medizinischen Daten eines Kindes ohne Einwilligung und Entbindung von der Schweigepflicht durch Ärzt*innen an andere Ärzt*innen aufgrund einer akuten medizinischen Notlage zur Klärung der Diagnose. Beschwert hatten sich die Eltern. Für das Gericht war das zulässig unter Verweis auf die Rechtsgrundlage lebenswichtige Interessen: »»Die Datenrecherche war zum Schutz lebenswichtiger Interessen des [Kindes] erforderlich. Der Palliativdienst des Antragsgegners gewann im Zuge der auf der Grundlage der Angaben der [Eltern] aufgenommenen Palliativversorgung des [Kindes], die sich an der mitgeteilten Diagnose „ALS“ orientierte, gewichtige medizinische Anhaltspunkte dafür, dass dieser in akute Lebensgefahr geriet. Zur Abwendung der Gefahr gebot dieser Erkenntnisstand aus der hier maßgeblichen ex-ante-Sicht, unverzüglich zunächst die medizinische Diagnose abzuklären.« (IDSG 08/2020 (Beschluss vom 28. Februar 2023), hier ausführlicher diskutiert.)

Berechtigtes Interesse

Beim berechtigten Interesse waren die kirchlichen Gesetzgeber deutlich kreativer: Alle Formulierungen – § 6 Abs. 1 lit. g) KDG und § 6 Nr. 8 DSG-EKD – gleichen zwar einander, jede unglückliche Formulierung ist aber auf ihre eigene Weise unglücklich. Das KDG folgt Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. f) DSGVO fast wörtlich, das Abschreiben führt aber zu Ungereimtheiten. Die eigenständige Formulierung des DSG-EKD führt faktisch zur Unanwendbarkeit.

KDG mit irriger Staatsanalogie

Das KDG schreibt die DSGVO einfach ab und ersetzt den Ausschluss von Behörden durch den Ausschluss öffentlich-rechtlich verfasster kirchlicher Stellen von der Anwendung des berechtigten Interesses, wenn sie in Erfüllung ihrer Aufgaben handeln.

Das Regelungsziel dieses Ausschlusses in der DSGVO kann man in Erwägungsgrund 47 nachlesen: Es gibt ihn, »da es dem Gesetzgeber obliegt, per Rechtsvorschrift die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Behörden zu schaffen«. Ziel ist also die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung: Behörden sollen nicht nur nichts gegen das Gesetz tun, sie sollen auch nichts ohne Gesetz tun. (Unverständlich ist dann, warum dann die Anwendung des berechtigten Interesses für Behörden nicht ganz ausgeschlossen wurde. Hier argumentiert man gerne mit nicht-hoheitlichen Verarbeitungen, etwa der Geburtstagsliste im Referat, die sich auf berechtigte Interessen berufen können soll, gelegentlich hört man auch von wirtschaftlicher Betätigung von Behörden.)

Mit diesem Grund für den Ausschluss ist auch klar, dass die Formulierung des KDG auf einer falschen Analogie beruht, die öffentlich-rechtlich verfasste kirchliche Stellen mit staatlichen Behörden gleichsetzt. Das mag funktional stimmen, grundrechtlich aber nicht: Staatliche Behörden sind grundrechtsverpflichtet, kirchliche Stellen grundrechtsberechtigt. Für staatliche Behörden gilt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, für kirchliche Stellen die allgemeine Handlungsfreiheit und die Religionsfreiheit.

Dennoch: Man muss mit dem Wortlaut umgehen. Berechtigtes Interesse kann nicht als Rechtsgrundlage »für die von öffentlich-rechtlich organisierten kirchlichen Stellen in Erfüllung ihrer Aufgaben vorgenommene Verarbeitung« herangezogen werden. Das heißt aber auch im Umkehrschluss: Für alle anderen Verarbeitungen sehr wohl. Der Ausschluss ist nicht pauschal. Die beiden Rechtsgrundlagen unterscheiden sich in der Anwendung und in den Konsequenzen: Für die Aufgabenwahrnehmung ist keine Abwägung nötig, für das berechtigte Interesse sehr wohl. Bei bestimmten öffentlich-rechtlich verfassten kirchlichen Stellen (nämlich die Diözese, die Kirchengemeinden, die Kirchenstiftungen und die Kirchengemeindeverbände) ist das Widerspruchsrecht bei Aufgabenwahrnehmung eingeschränkt (§ 23 Abs. 1 S. 3 KDG). Um das Schutzziel des Datenschutzrechts und den Einklang mit der DSGVO zu wahren, sollte die Aufgabenwahrnehmung (und damit die Anwendung des kirchlichen Interesses) daher eng ausgelegt werden.

DSG-EKD vergisst eigene Interessen

Auf den ersten Blick sieht das berechtigte Interesse im DSG-EKD unauffällig aus. Allerdings fehlt in der Aufzählung, wessen Interessen in der Abwägung zu berücksichtigen sind, eine ganz entscheidende Partei: Die Interessen des Verantwortlichen sind unerheblich für die Abwägung. Da hilft es auch nicht, dass nicht nach der Rechtsform des Verantwortlichen unterschieden wird: Die Rechtsgrundlage ist im DSG-EKD in den üblichen Fällen (wie der Veröffentlichung von Fotos oder Fundraising-Maßnahmen) nicht anwendbar.

Die Kehrseite ist, dass dann die Versuchung naheliegt, alles, was man sonst als berechtigtes Interesse anführen würde, als kirchliches Interesse auszugeben. Die Folge: Anstatt deutlich schärfer zu sein als die DSGVO, droht das DSG-EKD ziemlich lax zu werden, da das kirchliche Interesse überfrachtet wird und es ohne Abwägung auskommt.

Der BfD EKD hat daher eine sehr kreative Lösung gefunden. An verschiedenen Stellen, etwa in seiner FAQ zu Direktwerbung, baut sich die Aufsicht ein berechtigtes Interesse wie in der DSGVO aus zwei DSG-EKD-Rechtsgrundlagen zusammen, nämlich § 6 Nr. 4 i. V. m Nr. 8 DSG-EKD. Seine Vorgaben: »Notwendig ist dann eine Abwägung im konkreten Einzelfall zwischen den Interessen des Verantwortlichen bzw. Dritten und der betroffenen Person. Es kann nicht auf abstrakte Kriterien oder vergleichbare Fälle abgestellt werden.« Vom Wortlaut her ist die Schaffung einer neuen Rechtsgrundlage aus zwei bestehenden zwar fragwürdig, mit Verweis auf eine unionsrechtskonforme Auslegung erscheint das aber vertretbar – und für die Praxis unabdingbar.

Kirchliches Interesse

Hier ähneln sich wieder die verschiedenen Gesetzestexte. § 6 Abs. 1 lit. f) KDG und § 6 Nr. 4 DSG-EKD verweisen auf die Wahrnehmung einer Aufgabe, die im kirchlichen Interesse liegt. Das entspricht wieder Art. 6 Abs. 1 lit. e) DSGVO bei gleichzeitiger Ersetzung von »öffentlich« durch »kirchlich«. Bei der DSGVO gibt es aber mit den Absätzen 2 und 3 noch nähere Regelungen des öffentlichen Interesses, insbesondere die Festlegung in Abs. 3, dass die Rechtsgrundlagen gemäß lit. e) durch Unionsrecht oder das Recht des Mitgliedsstaats festgelegt wird – mithin: Eine Aufgabe, die ein Verantwortlicher wahrnimmt, muss explizit übertragen sein.

Es liegt also nahe, das kirchliche Interesse unionsrechtskonform in der Linie von Art. 6 Abs. 3 DSGVO auszulegen. Zumindest die katholischen Aufsichten scheinen das auch zu tun. Sowohl der bayerische Diözesandatenschutzbeauftragte als auch der für die Ost-Bistümer haben sich hier in Interviews in unterschiedlicher Deutlichkeit für die explizite Übertragung ausgesprochen. »Dabei hilft es sicher, wenn die Datenverarbeitung im Dienste einer klar definierten Aufgabe erfolgt«, sagte der bayrische, und der ostdeutsche antwortete auf die Frage, ob es einer expliziten Übertragung bedürfe: »Ja, das würden wir so vertreten.«

Schaut man auf die Rechtsprechung, ist es aber nicht mehr so klar: Das IDSG hat in zwei Entscheidungen eine eher weite Auslegung vertreten. In seiner Entscheidung zur Weitergabe von Meldedaten zum Zweck der Haustürwerbung einer Kirchenzeitung (IDSG 13/2023, Beschluss vom 22. März 2024) sprach das Gericht allgemein von »in der Zuständigkeit« einer kirchlichen Stelle liegenden Aufgaben, zu denen »auch privatrechtliche Rechtsgeschäfte gehören, die als Durchgangsstadium erforderlich sind, um den kirchlichen Zweck zu erfüllen«.

Kirchliche Zwecke werden kirchenrechtlich und staatskirchenrechtlich definiert. Kirchenrechtlich unter Verweis auf die kirchlichen Zwecke des Vermögensrechts: »Die eigenen Zwecke aber sind vor allem: die geordnete Durchführung des Gottesdienstes, die Sicherstellung des angemessenen Unterhalts des Klerus und anderer Kirchenbediensteter, die Ausübung der Werke des Apostolats und der Caritas, vor allem gegenüber den Armen« (c. 1254 § 2 CIC). Staatskirchenrechtlich unter Verweis auf die Religionsfreiheit und die Kirchenartikel: »Seelsorge und Verkündigung sowie die Werbung für den eigenen Glauben, caritative Aktivitäten und ganz allgemein die Pflege und Förderung des Bekenntnisses«, heißt es in der Entscheidung. Darunter kann sehr, sehr viel fallen, so dass die Rechtsgrundlage sehr, sehr mächtig wird.

In einer anderen Entscheidung (IDSG 16/2021, Beschluss vom 24. Februar 2024) zur Frage, ob Missbrauchsaufarbeitung durch externe unabhängige Studien vom kirchlichen Interesses gedeckt wird, wird die Rechtsgrundlage zwar scheinbar genauer angegeben: »Das Gebot der Aufklärung und Aufarbeitung besteht auf der Grundlage der Pflicht des Bischofs nach can. 391 § 1 CIC, seine Leitungsvollmacht nach Maßgabe des Rechts auszuüben und dabei gemäß can. 383 § 1 CIC alle ihm anvertrauten Gläubigen ohne Ansehen der Person gleich zu behandeln, um der Wahrung der Würde von durch Missbrauch und Vertuschung Betroffenen (vgl. can. 208 CIC) willen und aus wohlverstandener Kirchenraison, die auf Erfüllung des von Jesus Christus mit Einsetzung der Kirche gegebenen Auftrags gerichtet ist.« Tatsächlich ist aber einiges an Interpretationsarbeit nötig, um aus diesen sehr allgemeinen Normen konkrete Aufgabenzuweisungen abzuleiten.

Will man selbst die Rechtsgrundlage begründen, hilft ein Blick auf gute kirchliche Normsetzung: Jüngst hat das Bistum Mainz in einer hier bereits sehr gelobten Regelung mit seinem Jubiläumserlass gezeigt, wie kompakt die Anwendung des kirchlichen Interesses plausibel gemacht werden kann. Der Jubiläumserlass ist keine eigene Rechtsgrundlage, sondern eine Instruktion, wie in einem konkreten Fall die Rechtsgrundlage kirchliches Interesse anzuwenden ist. Die Präambel kann als Vorlage herangezogen werden für eigene Begründungen: »Es gehört zu den Aufgaben der Kirche und liegt zugleich im kirchlichen Interesse, die Gläubigen über die Spendung von Sakramenten, festlich begangene Jahrestage und Jubiläen sowie über freudige und schmerzliche Ereignisse zu informieren, um dadurch einerseits die Gemeinschaft der Gläubigen zu stärken und die Anteilnahme am Leben der Gläubigen in den Pfarreien, Gemeinden und weiteren Orten kirchlichen Lebens zu fördern, andererseits die Dienstgemeinschaft zu stärken und den Dienstnehmern, Priestern und Ordensleuten Wertschätzung entgegen zu bringen.« Wer so eine Begründung aus dem kirchlichen Selbstverständnis und Auftrag heraus formuliert, kann sich auf kirchliches Interesse berufen.

Fazit und Ausblick

Mit den lebenswichtigen Interessen kommt man klar. Sowohl kirchliches wie berechtigtes Interesse ist in den kirchlichen Datenschutzgesetzen aber unbefriedigend gelöst. Immerhin gibt es katholischerseits mittlerweile einige Anhaltspunkte, wann ein kirchliches Interesse besteht.

Dennoch muss die Bewertung der beiden Rechtsgrundlagen in den beiden Gesetzen erhebliche Defizite feststellen: Das berechtigte Interesse ist in beiden Gesetzen jeweils unterschiedlich schlecht gelöst. Im KDG aufgrund der unsinnigen Differenzierung nach Rechtsform des Verantwortlichen, im DSG-EKD aufgrund der praktischen Unanwendbarkeit durch das Fehlen der Interessen des Verantwortlichen. Die katholische Differenzierung ist unsinnig, da ansonsten immer betont wird, dass die Erfüllung des kirchlichen Auftrags gerade unabhängig von der Rechtsform ist.

Beim kirchlichen Interesse muss man auch katholisch feststellen, was Hendrik Munsonius evangelisch konstatiert hat: Es herrscht ein »problematisches Maß an Unbestimmtheit«. Hier wäre ein Befreiungsschlag sinnvoll: Nämlich die Erkenntnis, dass eine eigenständige Normierung eines kirchlichen Interesses schlicht unnötig ist, weil kirchliches Interesse synonym mit »berechtigtem Interesse der Kirche« ist.

Zumindest für das DSG-EKD gibt es Hoffnung. Im hier veröffentlichten Referentenentwurf für die im Herbst anstehende DSG-EKD-Novelle wird nämlich genau dieser Befreiungsschlag vorgeschlagen: Das kirchliche Interesse fällt weg, es gibt – neben den lebenswichtigen Interessen – nur noch eine Interessensrechtsgrundlage, die die Interessen des Verantwortlichen berücksichtigt, eine Abwägung erfordert und nicht nach Rechtsform differenziert: »die Verarbeitung ist zur Wahrung der berechtigten Interessen der verantwortlichen Stelle oder eines Dritten erforderlich, sofern nicht die Interessen der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, insbesondere dann, wenn diese minderjährig ist«, soll es schlicht heißen. Das wäre die ideale Lösung, die klar und einfach in der Anwendung ist und dabei für einen angemessenen Interessensausgleich sorgt. Hoffentlich kommt es so – und hoffentlich orientiert sich der katholische Gesetzgeber bei seiner immer noch ausstehenden Evaluierung daran.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert