Recht auf Vergessenwerden als Waffe – der Kampf um das kirchliche Gedächtnis

In einem Fall, der weitreichende Auswirkungen auf ganz Europa haben könnte, berät der Europäischen Gerichtshof (EuGH) derzeit über Vorlagefragen des Brüsseler Märktegerichtshofs. Es geht um die Frage, ob die katholische Kirche in Belgien durch die Weigerung, Namen aus Taufregistern zu löschen, gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) – insbesondere gegen das sogenannte »Recht auf Vergessenwerden« – verstoßen hat.

Eine Hand in schwarzem Handschuh streicht über einen Buchblock.
(Bildquelle: Liana S auf Unsplash)

Auf den ersten Blick scheint es sich um einen technischen Streit über den Datenschutz zu handeln. Dahinter verbirgt sich jedoch eine viel tiefgreifendere rechtliche und soziologische Spannung: der Konflikt zwischen den Rechten des Einzelnen im digitalen Zeitalter und der spirituellen, historischen und theologischen Identität religiöser Institutionen. Das Recht auf Löschung aus der DSGVO ist zwar ein wichtiger Schutz in der modernen Datenwelt, seine Instrumentalisierung gegen religiöse Traditionen – insbesondere gegen die katholische Kirche – wirft jedoch erhebliche verfassungsrechtliche und kulturelle Bedenken auf.

Der Kommentar von Emmanuel S. Caliwan erschient zuerst in englischer Sprache unter dem Titel »Weaponizing the Right to be Forgotten? The GDPR, the Catholic Church, and the Battle for Ecclesial Memory« auf SocioJuris.

Rechtlicher Rahmen: Die DSGVO und das Recht auf Löschung

Die DSGVO, die 2018 wirksam wurde, stellt eines der strengsten Datenschutzregime weltweit dar. Art. 17, bekannt als »Recht auf Löschung« oder »Recht auf Vergessenwerden«, ermöglicht es betroffenen Personen, unter bestimmten Umständen die Löschung ihrer personenbezogenen Daten zu verlangen.

Dieses Recht ist jedoch nicht absolut. Art. 17 Abs. 3 DSGVO kennt mehrere Ausnahmen, darunter

  • die Erforderlichkeit zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung (lit. b))
  • die Aufbewahrung für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder statistische Zwecke (lit. d))

Die katholische Kirche argumentiert, dass ihre Taufregister unter diese Ausnahmen fallen. Es handelt sich dabei nicht nur um Datenpunkte, sondern um Aufzeichnungen von Sakramenten mit religiöser, historischer und theologischer Bedeutung. Die Löschung solcher Aufzeichnungen würde nach Ansicht der Kirche nicht nur ihre religiöse Autonomie gefährden, sondern auch die Integrität der Sakramententheologie untergraben.

Instrumentalisierung des Datenschutzrechts?

Daraus folgt eine Frage: Kann die DSGVO dazu verwendet werden, Aufzeichnungen über Sakramente zu löschen? Wenn Gerichte religiöse Institutionen dazu zwingen, ihre internen Aufzeichnungen zu ändern, um säkularen Datenschutzgesetzen zu entsprechen, wo ziehen wir dann die Grenze zwischen staatlicher Regulierung und kirchlicher Autonomie?

Der Datenschutz ist für den Schutz des Einzelnen vor dem Überwachungskapitalismus von entscheidender Bedeutung. Der wachsende Trend, sich auf das »Recht auf Vergessenwerden« zu berufen, um biographische Geschehnisse – sogar religiöse – ungeschehen zu machen oder umzuschreiben, könnte aber zu einer säkularen Verrechtlichung des Glaubens führen. Wenn Taufregister, die ausschließlich zu religiösen und archivarischen Zwecken geführt werden, gelöscht werden müssen, was geschieht dann mit der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 der EU-Grundrechtecharta?

Damit geht es nicht mehr nur darum, Vorschriften einzuhalten. Es wird zu einer Frage des Gewissens und der Ekklesiologie.

Religionsfreiheit vs. Datenhoheit

Die DSGVO gilt für alle Institutionen – öffentliche wie private –, die personenbezogene Daten verarbeiten. Ihre Anwendung auf religiöse Sakramente und deren Aufzeichnungen droht jedoch die Grenze zwischen Kirche und Staat neu zu definieren, insbesondere in Gesellschaften, in denen beide verfassungsrechtlich getrennt sind.

Das Argument der Kirche basiert auf der Lehre der Sakramententheologie, dass die Taufe ein unauslöschliches Prägemal darstellt. Aus kanonistischer und theologischer Sicht kann eine getaufte Person nicht »enttauft« werden. Die Aufzeichnungen über diese Taufe sind daher nicht nur administrativer, sondern ontologischer Natur. Sie dokumentieren weit mehr ein geistliches Ereignis als eine soziale Zugehörigkeit.

Die Forderung nach ihrer Löschung, weil eine Person sich nun von der Kirche losgesagt hat, kommt der Forderung nach der Löschung einer Geburtsurkunde gleich, weil man sich nicht mehr mit seiner Staatsangehörigkeit identifiziert. Dies verkennt den Charakter der Aufzeichnungen und erweitert den Geltungsbereich des Datenschutzrechts übermäßig.

Eine soziologisch-rechtliche Perspektive: Säkularismus, Identität und Erinnerung

Aus soziologisch-rechtswissenschaftlicher Sicht zeigt dieser Streit, wie moderne Rechtssysteme zunehmend in Bereiche vordringen, die einst als heilig, privat oder symbolisch galten. Das Recht auf Vergessenwerden, das aus dem hehren Bestreben heraus entstanden ist, vor digitalen Schäden zu schützen, wird nun als Instrument genutzt, um Zugehörigkeiten auszulöschen, die ideologisch nicht mehr opportun sind.

Wir müssen uns fragen: Was für eine Gesellschaft schaffen wir, wenn Erinnerungen – persönliche, historische oder spirituelle – nach Belieben gelöscht werden können?

Religiöse Institutionen wie die katholische Kirche sind nicht nur verantwortliche Stellen im Sinne des Datenschutzrechts – sie sind Aufbewahrungsorte für Erinnerung, Identität und Glauben. Ihre Aufzeichnungen überdauern oft Staaten, Ideologien und Regime. Der Einsatz der DSGVO gegen sie birgt die Gefahr, einen rechtlichen Präzedenzfall zu schaffen, in dem subjektive Abkehr von einer Gemeinschaft das kollektive Gedächtnis außer Kraft setzen kann.

Abwägung konkurrierender Rechte: Hin zu einer verhältnismäßigen Lösung

Das ist kein Plädoyer, Kirchen vollständig von Datenschutzgesetzen auszunehmen. Vielmehr geht es um Verhältnismäßigkeit und rechtlicher Differenzierung. Der EuGH sollte

  • den archivarischen, religiösen und historischen Charakter sakramentaler Aufzeichnungen anerkennen,
  • betroffenen Personen die Möglichkeit geben, ihren Austritt zu dokumentieren (etwa durch Randnotizen im Taufbuch oder formelle Austrittsbestätigungen), ohne dass eine Löschung erforderlich ist, und
  • sicherstellen, dass religiöse Institutionen ihre theologische Integrität wahren können, während sie gleichzeitig die Datenschutzgrundsätze einhalten.

Ein solcher Ansatz schafft einen Ausgleich zwischen den Rechten des Einzelnen und der Religionsfreiheit und stellt sicher, dass das eine das andere nicht auslöscht.

Fazit

Die Entscheidung des Gerichtshofs wird einen wichtigen Präzedenzfall schaffen – nicht nur im Datenschutzrecht, sondern auch bei der Abgrenzung der säkularen Macht über das religiöse Leben. Die DSGVO ist zwar ein Eckpfeiler der modernen Menschenrechte im digitalen Zeitalter, darf aber nicht dazu instrumentalisiert werden, unter dem Deckmantel des Datenschutzes das Geistliche auszulöschen.

Es gibt ein Recht auf Vergessenwerden, das verantwortungsbewusst erfüllt werden muss. Aber das Vergessen gegen die gesellschaftliche Erinnerung – insbesondere gegen die sakramentale Erinnerung – als Waffe einzusetzen, ist ein schwerwiegender Verstoß gegen Recht und Gerechtigkeit.

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