In mehreren europäischen Mitgliedsstaaten mussten sich Gerichte bereits mit der Frage auseinandersetzen, ob es ein Recht auf Löschung von Taufbucheinträgen gibt. Bisher haben sich letzten Endes alle nationalen Gerichte dazu in der Lage gesehen, die Frage selbst zu beantworten, und zwar immer zugunsten der Kirchen, die keine Taufbucheinträge löschen wollten.
Eine verbindliche europarechtliche Klärung der Rechtslage stand daher bislang aus. Das wird sich nun ändern: Der belgische Märktegerichtshof – das zuständige Gericht für Rechtsmittel gegen Aufsichtsbehörden – hat dem EuGH Fragen zum Löschrecht bei Taufbüchern vorgelegt. Zuvor hatte das Bistum Gent gegen eine Entscheidung der belgischen Datenschutzaufsicht geklagt, die die Kirche zur Löschung zwingen wollte.
Der Fall
Der Fall ist so typisch wie unspektakulär: Katholisch getaufte Personen wollen aus den Taufbüchern gelöscht werden – und zwar wirklich vollständig. Das Bistum Gent dagegen bringt (wie es zumindest in Europa in den meisten Bistümern üblich ist) nur Vermerke im Taufbuch an, die den Austrittswunsch notieren. Das führte zum Streit.
Stand und Gang des Verfahrens
Die Datenschutzaufsicht hatte Ende 2023 eine klare Entscheidung gegen das Bistum gefasst und ein Löschrecht gesehen. Das Bistum hat gegen die Entscheidung Rechtsmittel eingelegt. Nach zwei (prozeduralen und in der Sache nicht interessanten) Zwischenurteilen hat der Märktegerichtshof am Mittwoch nun entschieden und auf 44 Seiten begründet, dass es nicht alle Rechtsfragen allein klären kann: Es braucht zuerst die Beantwortung von einigen Fragen durch den Europäischen Gerichtshof.
Nicht alles muss die Schleife über Luxemburg drehen: Klar ist für das Gericht, dass die rein auf Papier geführten Taufbücher in den Anwendungsbereich der DSGVO fallen, da sie dateiförmig organisiert sind. Klar ist auch, dass eine gemeinsame Verantwortlichkeit zwischen dem Rechtsträger des Bistums und den die Pfarrbücher führenden Pfarreien vorliegt.
Die EuGH-Vorlage
Das Gericht verweist auf drei Fälle in EU-Mitgliedsstaaten: Irland, Slowenien und Frankreich. »Die Linie in diesen europäischen Entscheidungen weist bereits deutlich auf eine Abweichung von der Analyse der belgischen Datenschutzaufsicht in der jetzt angefochtenen Entscheidung hin. In der Tat scheinen die zugrunde liegenden Tatsachen in allen Fällen analog zu sein: nämlich ein Beschwerdeführer, der eine Form der Löschung seiner Daten im Taufregister beantragt, das kanonische Recht, das eine uneingeschränkte Löschung nicht zulässt, und die Frage der Anwendung der DSGVO. Daher erscheint es für die breitere gesellschaftliche Debatte, in die auch das vorliegende Verfahren eingebettet ist, wichtig, den Europäischen Gerichtshof zu dieser Frage zu befragen«, befindet das Gericht.
Allgemein formuliert es seine Anfrage so: »Ist das Recht auf Religionsfreiheit oder das Recht auf Datenschutz und Datenlöschung absolut, und wenn nicht, was sind die maßgeblichen Kriterien für eine Abwägung, wenn die beiden Grundrechte aufeinandertreffen?«
Ein Vorabentscheidungsverfahren (und nicht etwa eine Lösung auf Ebene des nationalstaatlichen Rechts, wie man angesichts der Unzuständigkeit der EU für Religionsverfassungsrecht annehmen könnte) sei deshalb nötig, weil es hier zu einer Kollision von Grundrechten komme und es Kriterien für eine sachgerechte Abwägung brauche: Als Rechtsgrundlage für die Verarbeitung wird von einem berechtigten Interesse ausgegangen. »Das Recht auf freie Meinungsäußerung und Religionsfreiheit beinhaltet in der Tat auch die individuelle Freiheit, die Religion zu wechseln oder nicht an eine bestimmte Religion zu glauben (und ihr anzugehören). Der Beschwerdeführer bleibt jedoch durch seinen Eintrag im Taufregister in gewisser Weise mit dem Antragsteller ›verbunden‹. Da die verschiedenen Interessen miteinander in Konflikt stehen, ist eine Abwägung erforderlich«, heißt es dazu im Beschluss – und genau danach befragt das Gericht den EuGH erstaunlich kleinteilig:
»a) Ist Art. 17 DSGVO in Verbindung mit dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie es in Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („Charta“) garantiert ist, der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wie sie in Art. 10 der Charta und Art. 9 EMRK garantiert ist, und dem Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat, wie er in Art. 19 und 21 der belgischen Verfassung verankert ist, so auszulegen, dass eine Person, die als Minderjähriger getauft wurde und sich als Erwachsener von der römisch-katholischen Kirche distanzieren möchte, ein Recht darauf hat oder nicht hat, dass ihre personenbezogenen Daten aus dem Taufregister gelöscht werden?
b) Spielt es für die Anwendung des § 17 Abs. 1 lit. c DSGVO eine Rolle, dass die Eintragung in das Taufregister nach Ansicht des für die Verarbeitung Verantwortlichen die genannten Grundrechte (Religionsfreiheit) des für die Verarbeitung Verantwortlichen und der von ihm vertretenen römisch-katholischen Kirchengemeinschaft berührt? Spielt es eine Rolle, dass dieses Taufregister nicht digital ist, sondern ein einmalig vorhandener Datenträger in Form eines Buches mit Seiten ist, das auf der Rückseite auch Daten von anderen Beteiligten enthält?
d) Macht es in diesem Zusammenhang einen Unterschied, dass es sich bei dem Buch selbst um ein historisches Artefakt handelt und dass das Taufregister eine einzigartige Darstellung historischer Fakten ist, die nirgendwo sonst aufgezeichnet sind, sodass die Datenverarbeitung auch zum Zwecke der Archivierung im öffentlichen Interesse, der wissenschaftlichen oder historischen Forschung oder zu statistischen Zwecken im Sinne des Artikels 17 Absatz 3 Buchstabe d) DSGVO erfolgt?
e) Ist soweit in § 17 Abs. 1 DSGVO ein Recht auf Datenlöschung vorgesehen ist und soweit in § 17 Abs. 3 DSGVO keine Ausnahme von diesem Recht vorgesehen ist, das Recht auf Datenlöschung in gleicher Weise mit dem Vermerk des Kirchenaustritts am Rande des Taufbuches erfüllt?«
Fazit
Erstmals wird sich der EuGH nun mit einer der zentralen Fragen des kirchlichen Datenschutzes befassen müssen. Wie es ausgeht, ist kaum abzuschätzen. Der EuGH ist nicht gerade für seine große Offenheit für institutionelle Religionsfreiheit bekannt – das mussten die Kirchen in Deutschland beim Arbeitsrecht schon feststellen. Andererseits gibt es eben viele Präzedenzfälle zum Löschrecht, die nationale Institutionen mit Ausnahme Belgiens bisher immer zugunsten der Kirchen entschieden haben – mit durchaus plausiblen Argumenten.
Die Vorlagefragen sind sehr nah am Fall und fragen weniger nach Prinzipien der Auslegung europarechtlicher Vorgaben als nach der Anwendung auf den konkreten Sachverhalt. Daher überrascht die Vorlage etwas: Andere Gerichte haben sich derartige Abwägungen selbst zugetraut, wohl auch deshalb, weil Religionsverfassungsrecht gerade keine EU-Kompetenz ist und gemäß Art. 17 AEUV die EU den Status quo des mitgliedsstaatlichen Religionsverfassungsrechts auch gar nicht antasten darf. Wenn man aber den EuGH fragt, dann spricht vieles dafür, dass er auch antwortet – und die Chance nutzt, seine Zuständigkeit noch etwas extensiver zu ziehen.
Egal wie es ausgeht: Erstmals seit Geltung der DSGVO dürfte nun eine Entscheidung des EuGH zum kirchlichen Datenschutz anstehen, die das Potential hat, einiges auf den Kopf zu stellen. Die Aufsicht ist jedenfalls optimistisch: »Das ist ein sehr erfreuliches Urteil für die Datenschutzaufsicht, das unserer Analyse in vielen Punkten folgt und die Grundsatzfrage nach dem Gleichgewicht zwischen Datenschutz und Religionsfreiheit vor das höchste europäische Gericht bringt«, kommentierte Hielke Hijmans, Vorsitzender der Streitkammer der Aufsicht, die Entscheidung.
Interessant! Gibt’s schon Tendenzen, was ihr rückmeldet?