Staatliche Strafprozessakten in kirchlichen Verfahren – BayObLG zeigt Grenzen auf

Die Beweiserhebung in kirchlichen Strafprozessen ist schwierig. Hoheitliche Befugnisse haben kirchliche Gerichte nicht. Deshalb wird in kirchlichen Ermittlungen oft auf staatliche Strafakten zurückgegriffen. Rechtlich wird das bislang in der Regel über § 474 StPO ermöglicht, der Auskünfte und Akteneinsicht für Justizbehörden und andere öffentliche Stellen regelt. Indem die kirchlichen Behörden als »andere öffentliche Stelle« verstanden wird, sind für die Akteneinsicht deutlich niedrigere Hürden zu nehmen als bei einem Rückgriff auf § 475 StPO, das für Einsicht und Auskünfte für Privatpersonen und sonstige Stellen höhere Anforderungen stellt.

Ein Aktenordner vor neutralem Hintergrund
Bildquelle: Tim Reckmann (via Flickr), CC BY 2.0 (zugeschnitten)

Eine Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG, Beschluss vom 15. Januar 2024 – 204 VAs 177/23) könnte nun die bewährte Praxis einschränken. Hintergrund ist der Fall eines Priesters des Bistums Regensburg, dem Sexualdelikte vorgeworfen wurden. Nach einer Hausdurchsuchung und Auswertung der sichergestellten Datenträger stellte die Staatsanwaltschaft aber das Verfahren ein, ohne jeden Restverdacht anzunehmen. Die vom Bistum Regensburg dennoch erbetene Akteneinsicht wurde vom BayObLG aber als nicht zulässig gewertet – mit einer ausführlichen Würdigung der Problematik der Kirche als öffentlich-rechtlich verfasster Stelle.

Der Fall

Die Staatsanwaltschaft Regensburg hatte ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung und der Verbreitung jugendpornografischer Inhalte geführt. Nach einer Hausdurchsuchung ergaben sich aber keine weiteren belastbaren Hinweise hinsichtlich der Tatvorwürfe. Auch der Beschuldigte bestritt die Vorwürfe. Am Ende stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein, nachdem sich aus den Beweisen kein hinreichender Tatverdacht ergeben hatte.

Parallel hatte das Bistum Regensburg von Anfang an um Akteneinsicht gebeten: »mit der Begründung, die Ermittlungsergebnisse seien notwendig, um das kirchenrechtliche Verfahren durchführen zu können. Mit Bekanntwerden der Vorwürfe sei das kirchenrechtliche Vorverfahren eingeleitet worden. Der Priester sei bis zum Abschluss des Verfahrens von allen Aufgaben entbunden und ihm jegliche seelsorgerische Tätigkeit untersagt worden.« Kurz vor der Einstellung bewilligte die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht und stellte ein berechtigtes Interesse des Bistums und keine entgegenstehenden Interessen des Betroffenen fest. Der Beschuldigte machte von seinem Recht Gebrauch, Einwände zu erheben und beantragte, dem Bistum die Akteneinsicht zu verweigern: »Ein berechtigtes Interesse des Bistums an der Akteneinsicht sei weder dargetan noch aus den Umständen ersichtlich. Wegen der sich in den Akten befindlichen intimen Details zu den sexuellen Vorlieben des Antragstellers – sofern man unterstellt, dass dieser der Nutzer des jeweiligen Accounts gewesen sei – ergebe sich ein überwiegendes Interesse des Antragstellers, Akteneinsicht gegenüber Dritten zu verweigern.«

Die Staatsanwaltschaft ließ nun das Bistum erläutern, warum die Einsicht erforderlich sei und nicht eine Auskunft genüge. Als Grund gab das Bistum das kirchliche Strafverfahren an, »da die Erzdiözese (sic!) R. nicht über die ermittlungstechnischen Möglichkeiten der Staatsanwaltschaft verfüge und auf eine Übernahme der im staatlichen Verfahren gewonnenen Erkenntnisse angewiesen sei«. Gebraucht würden alle Informationen zur Nutzung einer im veröffentlichten Urteil nicht genannten Webseite durch den Kleriker, hilfsweise genüge auch eine Auskunft. Die Staatsanwaltschaft vertrat weiterhin die Position, dass die Anwendung von § 174 StPO möglich sei, da es sich um eine öffentlich-rechtlich verfasste Körperschaft handle, und hielt an der Gewährung der Einsicht fest. Auch die Generalstaatsanwaltschaft München sah das so und betrachtete den Antrag des ehemaligen Beschuldigten als unbegründet.

Die Entscheidung

Das BayObLG gab dem Priester recht. Die Gewährung der Akteneinsicht hätte in den Schutzbereich seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen. Darüber hinaus ging das Gericht davon aus, dass schon die Voraussetzungen für eine Bewilligung der Akteneinsicht oder Auskunft erst gar nicht vorlagen.

Bistum als sonstige öffentliche Stelle

Das Gericht vermisste eine Begründung, warum das Bistum als sonstige öffentlich Stelle gemäß § 174 StPO eingestuft werden sollte und stellt fest, dass es »trotz seiner Stellung als Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht grundsätzlich als öffentliche Stelle im Sinne des § 474 Abs. 2 StPO anzusehen« ist. Die Norm hebe grundsätzlich nur auf »hoheitliche Aufgaben wahrnehmende Stellen« ab. Die Norm müsse eng ausgelegt werden, »da der Bürger bei einer Auskunft gegenüber privaten Stellen durch den strengeren Prüfungsmaßstab des § 475 StPO geschützt werden soll«. Privilegiert seien öffentliche Stellen, weil bei ihnen eine »größere Vertrauenswürdigkeit« angenommen werden kann.

Ausdrücklich argumentiert das BayObLG in Analogie zum Begriff der öffentlichen Stelle im BDSG. Damit kann das Gericht auf die umfangreiche Literatur zur Stellung von öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften im Datenschutzrecht zurückgreifen (ausführlich führt das Rn. 40 aus). Die Zuerkennung des Körperschaftsstatus gliedere die Religionsgemeinschaften nicht in den Staat ein, sondern sei »vielmehr ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit«: »Vielmehr stehen sie dem Staat als Teile der Gesellschaft gegenüber und können eigene Rechte gegen den Staat geltend machen.«

Das kirchliche Strafverfahren gegen den Priester betrifft nach Ansicht des BayObLG den Kernbereich der eigenen Angelegenheiten der Kirche. »Da innerkirchliche Maßnahmen, wie etwa die Versetzung eines Pfarrers in den Ruhestand, keinen Bereich betreffen, in dem der Staat der Kirche hoheitliche Gewalt verliehen hat, entfalten diese im staatlichen Zuständigkeitsbereich keine unmittelbaren Rechtswirkungen.« Im Ergebnis können kirchenrechtliche Maßnahmen nicht als Akt der öffentlichen Gewalt eingeordnet werden, der es rechtfertigen würde, das Bistum als öffentliche Stelle im Sinne des § 474 StPO aufzufassen.

Möglichkeiten und Grenzen der Auskunft und Einsicht

Ganz unmöglich hielt das BayObLG es aber nicht, dass unter den Bedingungen von § 474 StPO Daten übermittelt werden: »Danach sind Auskünfte aus Akten an öffentliche Stellen zulässig, soweit diesen Stellen in sonstigen Fällen aufgrund einer besonderen Vorschrift von Amts wegen personenbezogene Daten aus Strafverfahren übermittelt werden dürfen. Dies betrifft vor allem die in §§ 12 ff. EGGVG geregelten Befugnisse«.

Kein Hindernis ist jedenfalls das geforderte ausreichende Datenschutzniveau – hier verweist das Gericht auf die kirchlichen Datenschutzregelungen.

Möglich ist die Übermittlung gemäß EGGVG, »soweit die Kenntnis der Daten für dienstrechtliche Maßnahmen oder Maßnahmen der Aufsicht erforderlich ist, falls der Betroffene Geistlicher einer Kirche ist und die Daten auf eine Verletzung von Pflichten schließen lassen, die dieser bei der Ausübung des Berufs oder der Wahrnehmung der Aufgaben aus seinem Amtsverhältnis zu beachten hatte oder die Daten in anderer Weise geeignet wären, Zweifel an der Eignung, Zuverlässigkeit oder Befähigung des Beschuldigten hervorzurufen«. Zu prüfen hat die Erforderlichkeit der Kenntnis von Daten nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die anfordernde Stelle – also hier das Bistum: »Die ersuchte Behörde kann somit grundsätzlich ohne Weiteres von der Erforderlichkeit der Auskunft, die der Empfänger in seinem Ersuchen auch nicht näher darlegen muss, ausgehen«. Lediglich eine Schlüssigkeitsprüfung brauche es.

Im vorliegenden Fall wäre eine Übermittlung also wohl grundsätzlich möglich gewesen – aber nicht, nachdem das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde, und solange keine besonderen Umstände des Einzelfalls die Übermittlung erforderlich machen. Angesichts der Vertrauensstellung, die Kleriker genießen, und der auch im kirchlichen Recht vorgesehenen Strafbarkeit von Sexualdelikten gebe es zwar »grundsätzlich ein beachtenswertes Interesse der Kirchenverwaltung, über entsprechende Verdachtsmomente, Ermittlungsergebnisse und gegebenenfalls vorhandene Beweismittel informiert zu werden«. Dem stehe aber die Verfahrenseinstellung entgegen. Das »Recht auf informationelle Selbstbestimmung des ehemals Beschuldigten in Verbindung mit seinem Persönlichkeitsrecht und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz« überwiege.

»Gegen den Antragsteller besteht aber nicht einmal ein Restverdacht hinsichtlich der dem Ermittlungsverfahren zugrundeliegenden Tatvorwürfe. Die bei der Durchsuchung gewonnenen Erkenntnisse über sein Privatleben und seine sexuellen Vorlieben haben mit dem Verdacht der Begehung von Straftaten nicht im Entferntesten zu tun, es handelt sich also nicht um mehr oder weniger gesicherte Erkenntnisse zu Straftaten, sondern um solche über seine private Lebensführung«, stellt das Gericht fest. Besondere Standespflichten von Klerikern begründen nach Ansicht des BayObLG keine besonderen Umstände, die doch eine Offenlegung der gewonnenen Informationen an die Kirche rechtfertigen würden. Auch hier überwiegen die Grundrechte des Priesters.

Fazit

Die Übermittlung von staatlichen Prozessakten für kirchliche Praxis ist eine übliche Praxis. Mit der Entscheidung korrigiert das BayObLG eine anscheinend bisweilen etwas sorglose Gewährung von Akteneinsicht von Staatsanwaltschaften, zeigt aber gleichzeitig auf, unter welchen Bedingungen unter Verweis auf spezielle Regelungen doch eine Übermittlung zulässig ist. Erfreulich ist dabei, dass den Grundrechten des beschuldigten Priesters ein großes Gewicht zugerechnet wurde. Für die Kirche ist das sicher misslich (was in der Entscheidung angedeutet wird, klingt sehr danach, dass das Verhalten nicht den Standespflichten eines Priesters entspricht). Spannend dürfte sein, ob diese Entscheidung Auswirkung auf die Praxis der Staatsanwaltschaften und damit auf die Funktionsfähigkeit der kirchlichen Justiz hat – durch die Einstellung des Verfahrens liegt hier ja eine deutlich andere Situation vor als bei einem eröffneten Verfahren oder gar einer Verurteilung.

Bemerkenswert ausführlich wurde die Frage nach den Besonderheiten der körperschaftlichen Verfasstheit von Kirchen behandelt; angesichts der gerade mit Blick auf die Reform des BDSG stattfindenden Diskussionen ist das ein sehr zeitgemäßes und relevantes Thema.

Bemerkenswert ist auch, wie intensiv sich das Gericht mit der kirchlichen Rechtsordnung befasst: Durchaus kenntnisreich entwickelt es seine Positionen aus dem Universal- und Partikularkirchenrecht. Über mangelnde kanonistische Musikalität kann man sich daher nicht beklagen.

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