»Eine neue Art des Zusammenlebens ist entstanden, eine neue Art sich zu informieren, eine neue Art, das Leben mit all den Herausforderungen zu meistern«, stellt Achim Blackstein gleich zu Beginn seiner »Impulse für die Praxis« fest, wie der Untertitel von »Digitale Seelsorge« lautet. Das setzt schon einmal den richtigen Horizont: Strenggenommen geht es schon lange nicht mehr um digitale Seelsorge in Abgrenzung zur »analogen« oder gar »normalen« Seelsorge, sondern um Seelsorge in der Realität der Digitalität.
Und trotz dieser Realität und – auch darauf weist Blackstein hin – gut 30 Jahren an Erfahrung mit digitaler Seelsorge bleiben Fragen nach Strategien und guter Praxis, zumal angesichts eines hoch dynamischen Felds der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Mit »Digitale Seelsorge« legt Blackstein einen kompakten und und praxisorientierten Überblick mit umfassendem Anspruch vor. Auch Fragen des Datenschutzes werden behandelt – hier stößt der Band aber an seine Grenzen.
Vertraulichkeit muss neu definiert werden
Blackstein beginnt mit der Haltung in der digitalen Seelsorge. Digitalität sorgt für ihn dafür, dass klare Grenzen der Vertraulichkeit verschwimmen. In der nicht-digitalen Begegnung werden solche Grenzen etwa durch abgeschirmte Räume, Körperhaltungen und Lautstärke signalisiert. Diese Praktiken der Vertraulichkeit sieht er als Marker von Seelsorgegesprächen, und weil diese Marker im digitalen nicht so eindeutig sind oder durch andere ersetzt werden, sei nicht immer ganz klar, wann Seelsorge beginnt: Obwohl digitale Seelsorge echte Seelsorge ist, greifen die »analogen« Kriterien und Kategorien nicht für eine angemessene Beurteilung. Der Autor entwickelt daher zunächst einen Begriff von Seelsorge, um dann gute Online-Kontakte zu analysieren, Phänomene der Schriftlichkeit, der »Oraliteralität« sowie der digitalen Kultur und Praktiken zu betrachten. Recht schnell wird es dabei sehr praktisch, etwa wenn sich eigene Abschnitte Themen wie dem sorgfältigen Lesen von E-Mails widmen.
Jeweils ganze Kapitel sind Videogesprächen und Messengern gewidmet. Hier zeigt sich eine tiefe Reflexion; vieles davon mag für Menschen, die im Alltag diese Medien nutzen, redundant oder selbstverständlich wirken. Tatsächlich ist die explizite Auseinandersetzung mit Fragen, wie man vor der Kamera auftritt und redet, welche kulturellen Praktiken sich entwickelt haben, welche Features man wie nutzt und warum sehr hilfreich, gerade weil sie Dinge, die man im Alltag unreflektiert tut, hinterfragen und ihre Bedeutung für gelingende Kommunikation beleuchten.
Eigene Grenzen erkennen
Selbstfürsorge und ein Bewusstsein für die eigenen Grenzen sowie die Trennung der – in der Regel beruflichen – Seelsorgetätigkeit vom Privatleben werden immer wieder thematisiert. Schwierige Situationen bekommen ein eigenes Kapitel: Suizidalität, Fakes, aber auch einfach »Vielschreiber*innen« und stagnierende Gespräche. Angesichts des umfangreichen Materials und der vielen Themen, die Blackstein anreißt, sorgt das Kapitel zu Grenzen dafür, Überforderung zu vermeiden: »Niemand muss ein Influencer werden, niemand sollte sich gegen den Willen in einer Chatseelsorge engagieren müssen. Für manche ist der digitale Raum, das Online-Setting, einfach nichts.« Das ist entlastend und zugleich ein Plädoyer für einen effizienten, da charismenorientierten Personaleinsatz. Erfreulich klar ist das auch für die digitale Seelsorge in der Gemeinde formuliert, wo Blackstein diese Prüfsteine nennt: »Wollen wir das wirklich? Und mit welchen Hoffnungen verbinden wir gemeindlich unser Engagement? Wer das für sich strikt ablehnt, sollte es auch tatsächlich besser lassen.«
Trotz des relativ kompakten Buchs – deutlich weniger als 200 Druckseiten – werden sehr viele Themen angesprochen. Dabei zeigen sich auch die Grenzen des Ansatzes, wenn ein Autor quasi ein Kompendium vorlegen will. Bisweilen wirkt die Auswahl und Hierarchisierung etwas unsystematisch. Ein eigenes Kapitel »Digitale Seelsorge und Klimakrise«, plötzlich im Kapitel zu Gemeinden Empfehlungen für ideale Postingzeiten in verschiedenen Netzwerken (ist das wirklich der eine relevante Tipp für gute Social-Media-Strategien?), eine Liste von Apps, Tools und Ressourcen, die stellenweise wie ein frei assoziiertes und am Ende nicht sortiertes Brainstorming über gebookmarkte Webseiten wirkt (unter der Überschrift »Whiteboard« werden diverse Visualisierungs- und Kollaborationssystem aufgezählt, und am Ende tauchen Unsplash und Giphy auf).
Datenschutz ist durchgängig ein Problem
Nicht nur in einem eigenen Abschnitt, sondern durchlaufend tauchen Datenschutzthemen auf. Überzeugend und hilfreich sind die soziologischen und psychologischen Einschätzungen zum Umgang mit Vertraulichkeitserwartungen: Menschen schätzen laut Blackstein besonders die Möglichkeit der Anonymität. Für Hilfesuchende hat in der Regel der technische und rechtliche Datenschutz keine Priorität gegenüber Sicherheit und Sicherheitsempfinden: »Sich bei der seelsorgenden Person oder im Angebot an sich sicher und willkommen zu fühlen, ist manchmal wichtiger als alles andere.« Vorbildlich ist, dass in allen Tipps und Vorlagen zum Beginn von digitalen Gesprächen erwähnt wird, dass Hinweise und Verfahren zum Datenschutz benannt werden sollen: »Zu einem guten Joining, also einem erfolgreichen, vertrauensvollen und produktiven Zusammenfinden, und einer guten Grundlage für die Zusammenarbeit gehört vor allem in den ersten Gesprächsterminen das Klären des Settings.«
Blackstein benennt klar das Dilemma, dass die rechtlichen Vorgaben und die tatsächliche Mediennutzungspraxis in der Regel nicht in Einklang gebracht werden können und das eigene Mediennutzungsverhalten genauso wenig Datensparsamkeit und die Vermeidung von Drittstaatentransfers priorisiert wie das von Hilfesuchenden. »Ich finde es wichtig, diese Diskrepanz, ja Widersprüchlichkeit im Verhalten wahrzunehmen und wertzuschätzen. Beides spiegelt unser Leben und unsere Bedürfnisse oder Wünsche wider«, schreibt Blackstein. Datenschutzrechtliche Probleme sollen für ihn keine absoluten Hindernisse für eine seelsorgliche Nutzung sein. Den Wunsch nach Kontakt und Rat sieht er als wichtiger als sein persönliches Bedürfnis nach Sicherheit und Datenschutz: »Wenn ich also auf Social Media angesprochen werde, dann antworte ich, und wenn die Person trotz aller Aufklärung mit ihren Themen und Problemen da bleiben will, dann akzeptiere ich das in den genannten Grenzen. Das Seelsorgegeheimnis gilt auch in Social Media, aber der mangelnde Datenschutz darf uns nicht daran hindern, von Menschen angesprochen zu werden und mit ihnen in Kontakt zu treten.« Im Laufe des Kontakts soll regelmäßig darauf hingewiesen werden, dass das Medium Defizite hat und das Gespräch auch über besser geschützte Kanäle fortgesetzt werden kann.
Schwächen bei Recht und Technik
Leider bleiben technische und rechtliche Sachverhalte hinter der Qualität der seelsorglichen Aspekte zurück. Hier wäre es hilfreich gewesen, weitere Autor*innen hinzuzuziehen. Ein Satz wie »Soweit ich das überblicke, nutzen alle Messenger den verschlüsselten Transport der Daten in den Chats« deutet auf den Stellenwert hin, den das Thema bei der Recherche hatte. Gespräche über Telegram und Facebook-Messenger sind nicht immer Ende-zu-Ende-verschlüsselt, DM-Funktionen in sozialen Netzwerken in der Regel gar nicht. Ein Hinweis auf die Empfehlungen des BfD EKD zu Messengerdiensten fehlt. Netzwerkkabel sollen, »was den Datenschutz angeht, auch als sicherer und verlässlicher gegenüber dem WLAN« gelten, ist ein Tipp zum Homeoffice. Anstatt auf solche theoretischen Angriffsvektoren abzuheben, wäre der Hinweis sinnvoller, gerade bei älteren WLAN-Routern den verwendendeten Verschlüsselungsstandard zu überprüfen und VPN-Tunnel ins Firmennetzwerk auch tatsächlich zu nutzen. Sinnvoll und praktikabel dagegen ist die Empfehlung, für die Seelsorge ein eigenes Handy anzuschaffen, »ohne Kontaktliste und ohne Backup«, und Speicherbegrenzung und Datensparsamkeit »durch stetiges Löschen der Chats und Anruferlisten« sicherzustellen.
Der Abschnitt zu Datenschutz und Seelsorgegeheimnis bleibt oberflächlich. Zwar wird auf das Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD verwiesen, aber nur kursorisch auf die einschlägigen Normen zur Seelsorge mit technischen Kommunikationsmitteln (§ 11 SeelGG) und zum Umgang mit Seelsorgedaten (§ 12 SeelGG). Die katholische Rechtslage zum Umgang mit personenbezogenen Daten, die dem Beicht- oder Seelsorgegeheimnis unterliegen (§ 14 KDG-DVO) wird gar nicht erwähnt, der Hinweis allein auf das Beichtgeheimnis greift zu kurz. An anderer Stelle betont Blackstein, dass die Entscheidung über gegebenenfalls nichts rechtskonforme Systeme »in eigenem Ermessen und auf eigene Verantwortung« erfolgt. Ohne Kenntnis der Rechtslage kann hier kaum eine verantwortete Entscheidung getroffen werden, und der Verweis auf Eigenverantwortung lässt die Institution auch zu einfach aus der Verantwortung. Immer wieder wird erwähnt, dass es Dienste gibt, die nicht datenschutzkonform sind. Warum, was das bedeutet und anhand welcher Kriterien das festgestellt wird, bleibt dunkel.
Kursorisch werden Grundsätze der Datenverarbeitung und technische und organisatorische Maßnahmen aufgezählt – das ist eigentlich ein Ansatz, mit dem sich viel machen lässt. Im Buch sind auch immer wieder Beispiele verstreut, die technische und organisatorische Maßnahmen und die Umsetzung von Datenschutzgrundsätzen erwähnen. Zum Verständnis hätte es geholfen, wenn das Datenschutzkapitel einmal die Grundsätze und ToMs an konkreten Beispielen erläutert hätte.
Fazit
Achim Blackstein hat ein praxisnahes und erfahrungsgesättigtes Grundlagenwerk zur digitalen Seelsorge vorgelegt. Die detailreichen Erläuterungen zu medienspezifischen Praktiken und Kulturen sind gerade für Menschen hilfreich, die sich diesem Feld erst nähern. Die explizite Reflexion von Praktiken kann aber auch für Menschen augenöffnend sein, die sie schon ganz selbstverständlich implizit praktizieren. Man merkt dem Buch an, dass es keine Pflichtübung ist, sondern von dem Anliegen getragen wird, gute Seelsorge für Menschen zu ermöglichen.
Seine Grenzen findet das Vorhaben, digitale Seelsorge als Ganzes abzuhandeln, im technischen und rechtlichen Bereich. Auch nach der Lektüre dürfte für Einsteiger*innen immer noch nicht klar sein, was eigentlich Datenschutz ist, warum genau er Probleme macht und wie man damit umgeht. Es reicht nicht, das Dilemma zu benennen und es heroisch tragen zu wollen – wer Eigenverantwortung tragen soll, braucht in diesem Bereich mehr Befähigung.
Diese Kritik sollte aber Interessierte an digitaler Seelsorge nicht davon abhalten, das Buch zu lesen. Seine einladende Sprache und sein niederschwelliger Zugang zum Kernthema nehmen Menschen mit, die die Relevanz des Themes erkannt haben, aber noch Einstiegspunkte suchen.
(Eine weitere Rezension gibt es von Ralf Peter Reimann.)
Achim Blackstein: Digitale Seelsorge: Impulse für die Praxis, Vandenhoeck & Ruprecht, 1. Auflage 2023, 188 Seiten, 23 Euro.