Radikal pragmatisch Gemeinde digitalisieren

Wenn es um Digitalisierung und Kirche geht, dann sind häufig große Leuchtturmprojekte im Blick, spektakuläre Social-Media-Präsenzen – dabei fehlt es oft am einfachsten: Einer zugänglichen Webseite, auf der man erfährt, wann Gottesdienste sind, wie man die Gemeinde erreicht und wie man dort hinkommt. Das gehört zu den Beobachtungen, mit denen Philipp Greifenstein und Hanno Terbuyken die Digitalisierung von Gemeinden angehen.

Cover von »Vernetzt und zugewandt«
Philipp Greifenstein und Hanno Terbuyken: Vernetzt und zugewandt – digitale Gemeinde gestalten: Ein Praxishandbuch, Verlag Neukirchener 2024, 208 Seiten, 24 Euro.

Mit »Vernetzt und zugewandt – digitale Gemeinde gestalten« haben die beiden, so der Untertitel, ein Praxishandbuch vorgelegt. Und dieser Untertitel wird eingelöst: Knapp und einladend, dabei erfahrungsgesättigt und praktisch hilft das Buch dabei, Gemeinden in der Digitalität zu gestalten.

Was ist Digitalisierung?

Der theoretische Unterbau von Greifenstein und Terbuyken ist Felix Stalders »Kultur der Digitalität« mit ihren drei Grundmerkmalen Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Allzu theoretisch ist das Buch aber nicht: Auf dieser Grundlage entwickeln die Autoren, was Digitalisierung als Prozess in der Digitalität als Tatsache leisten muss. Die Frage »Wozu Digitalisierung« sei eigentlich eine Neuformulierung der Frage, wozu es uns als Kirche eigentlich gibt: »Digitalisierung soll nützen«, und deshalb müssen Digitalisierer*innen nach den Menschen und ihren Bedürfnissen fragen, fassen die Autoren ihren menschenzentrierten Ansatz zusammen.

Sehr deutlich machen sie, dass die Digitalität ein Faktum unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist, zu dem man sich nicht nicht verhalten kann: »Eine Kirche in der digitalisierten Gesellschaft wird notwendig auch digitale Kirche sein.« Deshalb kommen Gemeinden, kommen Kirchen auch nicht darum herum, damit umzugehen und zu gestalten. Zurecht wird später festgestellt, dass Digitalisierung nicht notwendig für Veränderung sorgt, aber oft eine Linse ist, durch die man bestehende Probleme besser wahrnimmt.

Realexistierende Digitalität in den Kirchen

Eine große Stärke des Buchs ist der stark erfahrungsgesättigte Zugang der Autoren zur Digitalisierung. Philipp Greifenstein begleitet als Journalist mit dem Eule-Magazin seit Jahren die Debatten um die #DigitaleKirche, Hanno Terbuyken war Leiter Digitale Kommunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik und Redaktionsleiter von evangelisch.de. Mittlerweile leitet er das Deutschland-Büro des Kirchensoftware-Dienstleisters Churchdesk. Aus diesen Funktionen ist beiden nicht nur die schöne Schauseite von Kirchen-Influencer*innen und Leuchtturmprojekten bekannt, sondern auch die real existierende Kirchenbürokratie und die Mühen der Ebene in den Gemeinden.

Ein Beispiel ist die Diagnose kirchlicher Digitalisierungsdebatten: Viel diskutiert würden zahlenmäßig übersichtliche Phänomene wie das digitale Abendmahl, die Entscheidungen von Kirchenämtern über Strategien blieben aber unterbelichtet: »Am Ende ärgern sich dann einige Hauptamtliche über ein völlig verkorkstes Intranet oder eine instabile Finanzsoftware, den teuren firmenseitigen Support für ihre Dienstgeräte oder unfähige ITler:innen im Kirchendienst – da sind die Ressourcen für einen Richtungswechsel aber schon aufgebraucht und nicht zuletzt Kirchensteuermittel verwendet worden, die zunehmend als knappes Gut gehandelt werden müssen.«

Evangelischer Standpunkt und ökumenische Weite

Schön ist, dass beide Autoren fest in evangelischer Theologie und evangelischen Sprachbildern stehen (kein*e Katholik*in spricht von »zurüsten«), zugleich aber immer die Ökumene mitdenken. Die Kritikfolien sind evangelisch, die analysierten Phänomene ökumenisch gleichermaßen vorkommende Probleme und kirchlichen Eigenheiten. Mit Luthers »Freiheit eines Christenmenschen« stellen die Autoren etwa fest, dass die digitale Gemeinde zweierlei Naturen kennt und darum weiß, »dass die äußere nicht ohne die innere verwirklicht werden kann, die äußere Gestalt aber wirkungslos bleibt, wenn nicht auch die innere sich reformieren lässt«.

Das bleibt nicht nur reformatorisches Sprachspiel, sondern wird konkret, indem das »Minimum an digitaler Gegenwart« für die äußere Gestalt einer Gemeinde beschrieben wird: »Sie hat eine Webseite, auf der aktuelle Termine stehen, und man kann dem Gemeindebüro eine E-Mail schicken.« Dazu kommen eine Social-Media-Präsenz und WhatsApp-Gruppen, in denen sich Menschen absprechen.

Praktische Tipps

Nach ausführlichen einführenden Kapiteln folgen konkrete Handreichungen zu Webseiten, Social Media, digitale Werkzeuge und Gemeindeverwaltung sowie ein Ausblick auf KI. Durchweg zieht sich das Prinzip durch, dass der Spatz in der Hand besser als die Taube auf dem Dach ist. Durchweg geht es um Machbarkeit und Nützlichkeit, nicht um spektakuläre Projekte mit zweifelhaftem Nutzen. Schön sind etwa die Überlegungen zu Kennzahlen. Sehr realistisch werden die Leser*innen eingenordet, dass Gemeinden YouTube realistischerweise als Mediathek und nicht als virales Medium nutzen werden. Views und Klickzahlen sind für die Autoren nicht das Maß erfolgreicher Digitalisierung, wichtig sind Relevanz- und Beziehungs-Indikatoren: »Suchen Sie sich als Kennzeichen für Erfolg vornehmlich Kriterien, die mit dem Leben ihrer Gemeinde in Verbindung stehen«. Auch die Frage, was den Beteiligten besonders viel Freude an der Mitarbeit bereitet hat, ist demnach eine relevanter Indikator.

Das ist eine gute, weil machbare Strategie: Gabenorientiert für andere arbeiten, das tun, was anderen wirklich nutzt, ohne überall mitspielen zu wollen, die Gemeinde und die Gemeinschaft im Blick, nicht nach kaum erreichbarer Viralität jagen.

Der liebe, liebe Datenschutz

Natürlich geht es auch um Datenschutz. Anders als Achim Blackstein es in seinem Buch über digitale Seelsorge versucht, gehen Greifenstein und Terbuyken erst gar nicht vertieft auf rechtliche Fragen ein und agieren konsequent pragmatisch.

Eine zentrale Frage ist dabei die nach der WhatsApp-Nutzung. Dass aufgrund der bekannten Defizite eine datenschutzrechtskonforme Nutzung kaum möglich ist, ist klar. Die Autoren schauen aber darauf, was ein Verbot tatsächlich bringt und bewirkt – nämlich nicht, dass WhatsApp aus dem Gemeindealltag verschwindet. Denn – auch das ist eine Tatsache – alle anderen Messenger sind um ein Vielfaches weniger verbreitet. Sehr spitz (und zutreffend) kommentieren die Autoren das Bestreben, eigene kirchliche Messenger einzuführen oder wenigstens zulässige, aber wenig verbreitete Kanäle zu nutzen: »Die Kirche muss sich nicht noch exotischer und schwer verständlicher machen, als sie sowieso schon ist, indem sie interessierte Menschen auf ungewohnte und umständliche Kommunikationskanäle zwingt.«

Zutreffend ist wohl auch die Diagnose, wozu WhatsApp-Verbote führen: WhatsApp wird trotzdem genutzt, und wenn nicht auf dem Diensthandy, dann auf dem privaten – was im Ergebnis noch problematischer ist als auf dem Diensthandy. Die Strategie, ein dezidiertes WhatsApp-Gerät zu verwenden, wird ebenfalls seziert und auf die Realität zurückgestutzt: »Damit wäre dem Datenschutz genüge getan, aber nur aufseiten des Dienstgebers – die Personen, die über WhatsApp privat ihr Leben organisieren und darüber kommunizieren, treffen diese Entscheidung für sich selbst.«

WhatsApp ist der Hauptkonfliktpunkt, wo rechtliche Compliance und Lebenswelt von Menschen aufeinanderprallen. Ansonsten sehen die Autoren das Problem des Datenschutzes als lösbar an. Bei der statistischen Auswertung von Webseiten genügt nach ihrer Ansicht, was sich mit rechtskonform anonymisierten Daten bewerkstelligen lässt – auch das eine Konsequenz aus dem realistisch-bescheidenen Ansatz: Schon die Daten, die rechtskonform erhoben werden können, dürften viele Gemeinden in der produktiven Analyse überfordern. Viele Standardsoftware kann ohnehin datenschutzkonform eingesetzt werden, die besonderen Rahmenbedingungen des kirchlichen Datenschutzes bilden viele Anbieter auch ab.

Als eigentliches einzuübendes Arbeitsfeld wird nicht die Technik, sondern der Umgang mit Daten identifiziert: »Der saubere und sorgfältige Umgang
mit Daten, auf die Kirchenmenschen rechtmäßig Zugriff haben, muss ebenfalls geübt werden. Das Paradebeispiel sind Passwortlisten, die im Pfarrbüro an der Pinnwand hängen. Die Plattform, auf der die Gemeindesekretär:in sich einloggt, kann so sicher sein wie Fort Knox: Wenn das Passwort für alle Besucher:innen sichtbar im Büro hängt, ist es mit der Datensicherheit nicht weit her. Auch Benutzerkonten und Zugänge, bei denen alle die gleiche EMail- Adresse und ein allen bekanntes Passwort nutzen, das frei in der Gemeinde kursiert, sollten immer in persönliche Zugänge umgewandelt werden.« Das ist eigentlich schon ein sehr solides Programm, um technische und organisatorische Maßnahmen zu gestalten. (Wird allerdings etwas missverständlich als Datensicherheit bezeichnet, obwohl es eigentlich ein Aspekt von Datenschutz ist.)

Darüber hinaus steht das Argument der Lebenswelt im Mittelpunkt: Das problematische Umfeld der großen Plattformen ist eine Tatsache. Dennoch sind dort Menschen. Das Plädoyer der Autoren: »Auch außerhalb geschützter Orte müssen Menschen in der Kirche ihrem Auftrag von Nachfolge und Verkündigung nachgehen. Datenschutz ist kein Selbstzweck. Er muss ebenso den Menschen dienen wie die Kirche es als Ganzes tut.« Das mag aus Sicht von Aufsicht und Compliance Ketzerei sein – aber selbst auf rechtlicher Ebene trägt das Argument, dass Datenschutz ein Grundrecht ist, das aber mit anderen in praktische Konkordanz gebracht werden muss.

Fazit

Philipp Greifenstein und Hanno Terbuyken haben ihren Unter-Untertitel eingelöst: Ihr Buch ist ein Praxishandbuch. Das große Thema Digitalisierung wird heruntergebrochen auf Schritte, die man tatsächlich gehen kann, ohne überfordert zu werden. Das Buch ermutigt und macht Lust, weil Digitalisierung als Werkzeug für die Ziele von Kirchen ausformuliert wird statt als bloßes Add-on oder Nischenthema.

Der radikale Pragmatismus, der beim Thema Datenschutz vertreten wird, geht genau in diese Richtung. Sicher hätte man hier noch etwas ausführlicher formulieren können, was Datenschutz will und wie man Datenschutz auf einen ähnlich handhabbaren und ähnlich empowernden Nenner bringen kann, wie es Greifenstein und Terbuyken mit Digitalisierung machen, und wie man verantwortet Risiken bewertet und eingeht. Aber das ist wohl ein Buch, das jemand anderes schreiben muss.

Alle, die Gemeinden gestalten, ob haupt- oder ehrenamtlich, ob operativ vor Ort oder strategisch in Zentralen, sind jedenfalls gut beraten, dieses Buch anzuschaffen. (Eine Leseprobe gibt es im Eule-Magazin.)

Philipp Greifenstein und Hanno Terbuyken: Vernetzt und zugewandt – digitale Gemeinde gestalten: Ein Praxishandbuch, Verlag Neukirchener 2024, 208 Seiten, 24 Euro.

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