»Mein Gesicht gehört mir« – und keinem Influencer

Großzügige Spenden und Geschenke für Menschen auf der Straße – das ist für viele Influencer*innen eine sichere Bank, um Likes und Reichweite zu bekommen. Aber hilft das den Menschen wirklich, denen geholfen werden soll? Oder verzweckt es Menschen für Content?

Ein Mann mit Bahnhofsmissions-Poloshirt hält die Sticker der Kampagne »Mein Gesicht gehört mir« in den Händen.
Mit diesen Stickern können Menschen zeigen, dass sie nicht gefilmt und fotografiert werden wollen. (Foto: Bahnhofsmission Essen/Mihály Köles auf Unsplash/Montage fxn)

In Essen sind wie in wohl jeder größeren Stadt solche Influencer*innen unterwegs. Die Bahnhofsmission Essen unterstützt deshalb Menschen, die auf der Straße leben, mit guten Tipps, wie sie Nein sagen können – Sticker helfen dabei. Auf Instagram stellt die vom Diakoniewerk Essen und dem Caritasverband für die Stadt Essen getragene Bahnhofsmission ihre Kampagne vor. Im Interview erklärt Martin Lauscher, der Leiter der Bahnhofsmission Essen, wie Influencer*innen vorgehen, wie wohnungslose Menschen ihre Persönlichkeitsrechte schützen können – und was jede*r einzelne tun kann, um zu helfen.

Frage: Wie häufig kommt es vor, dass Menschen, die auf der Straße leben, von Influencer*innen gefilmt und fotografiert werden?

Lauscher: Wir haben keine konkreten Zahlen dazu. Wer aber soziale Medien nutzt, nimmt das relativ häufig war. Das ist so ein Trend, der aus dem angloamerikanischen Raum nach Europa und natürlich auch Deutschland herübergeschwappt ist. Das hat hier in den größten Städten begonnen, Hamburg, Berlin, Frankfurt, und jetzt breitet es sich auch in andere Städte aus. Ich gehe davon aus, dass es in jeder größeren Stadt in Deutschland einen Influencer gibt, der das regelmäßig tut.

Frage: Auch in Essen?

Lauscher: Ja, auch bei uns. Schon vor etwa zwei Jahren hat es hier einen Influencer gegeben, der eine große Spendenkampagne für einen wohnungslosen und suchtkranken Menschen veranstaltet hat. Am Ende gab es dann unterschiedliche Darstellungen darüber, ob das Geld alles bei dem wohnungslosen Mann gelandet ist – die juristische Aufarbeitung steht noch aus. Der Influencer sagt, er habe alles Geld ausgehändigt, der junge Mann sagt, dass er es nicht bekommen hat. Ich kann das nicht bewerten, wie es wirklich war. Der Influencer scheint einen recht guten Rechtsanwalt zu haben – und da sind man dann schon das Problem der Machtdynamik: Auf der anderen Seite ist ein junger Mann, der durchs soziale Netz gefallen ist, eine Suchterkrankung und eine psychische Erkrankung hat. Der hat keinen teuren Anwalt, und der wird kaum so glaubhaft rüberkommen wie ein Medienprofi. Diesen Fall haben wir über die Zeitung mitbekommen. Unseren Klientinnen und Klienten berichten auch regelmäßig davon, dass jemand mit der Kamera durch die Stadt läuft. Wir haben ihn auch schon gesehen, und wir sehen natürlich die Reels, die er auf Instagram teilt.

Frage: Und hatten Sie schon direkten Kontakt mit dem Influencer?

Lauscher: Wir haben versucht, ihn gemeinsam mit unserer Pressestelle und anderen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe der Caritas in Essen einzuladen. Er hat auch erst zugestimmt, aber in der Woche darauf wollte er dann nur noch kommen, wenn er eine Kamera mitbringen darf und alles filmen und veröffentlichen kann. Das konnten wir nicht zulassen. Kurz vor dem Termin hat er dann abgesagt und gesagt, er würde sich melden. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.

Frage: Und daraufhin ist dann ihre Kampagne entstanden mit den Stickern, auf denen groß »Nein« steht und »Mein Gesicht gehört mir!«.

Lauscher: Ja. Möglicherweise wäre sie auch entstanden, wenn es das Gespräch gegeben hätte. Uns geht es ja nicht darum, gegen einen bestimmten Influencer vorzugehen. Wir haben es hier in der Bahnhofsmission, in der Beratungsstelle und im Tagesaufenthalt für Wohnungslose mit einer hochvulnerablen Gruppe zu tun, die selten einmal einen Raum für sich allein hat. Oft gibt es kein Bewusstsein für die Risiken von sozialen Medien, weil die Menschen entweder nicht damit aufgewachsen sind, oder weil sie auf der Straße abgehängt sind von einer immer weiter digitalisierten Gesellschaft. Da wollten wir dann aufklären und ihnen die Möglichkeit geben, ein Zeichen zu setzen: Zum Schutz ihrer Privatsphäre – und für die Konsumenten von solchen Inhalten, die wahrscheinlich oft gar nicht wissen, wie problematisch die sind.

Frage: Warum hat Spenden-Content mit Menschen auf der Straße so einen großen Reiz?

Lauscher: Auf den ersten Blick sind das ja sehr menschliche Geschichten. Mein Bauchgefühl ist, dass der Zuspruch von Menschen kommt, die eine sehr idealisierte Sicht von Hilfe haben, die aber mit der Realität der sozialen Arbeit nichts zu tun haben. Da gibt es gar kein Gefühl dafür, was eine Wohnungslosigkeit für einen Menschen bedeutet. Da sieht man dann, wie jemand einmal eine Spende übergibt oder auch nur einen warmen Tee ausschenkt und denkt dann, damit wäre schon geholfen. Aber wenn man jeden Tag Kontakt hat mit wohnungslosen Menschen, dann weiß man, dass es mit solchen punktuellen Aktionen nicht getan ist. Und, weit schlimmer: Je mehr ich die Menschen in die Öffentlichkeit ziehe, desto mehr stigmatisiere ich sie. Menschen werden so zum Objekt einer angeblichen Hilfe gemacht und bezahlen das auch noch mit ihrer Privatsphäre. Nur, weil Menschen im öffentlichen Raum sind, weil sie eben kaum Rückzugsmöglichkeiten haben, geben sie ja nicht alle Rechte an ihrer Privatsphäre auf. Auch wenn es Menschen gibt, die das zu denken scheinen.

Frage: Bleibt es bei der Offline-Kampagne – oder gehen Sie auch in die Kommentare von Influencer*innen mit diesen Inhalten?

Lauscher: Wir haben nicht die Kapazität, mit unseren Accounts aktiv in die Kommentare von anderen reinzugehen. Ich weiß auch nicht, ob das zielführend wäre. Wir machen das, was wir können: Wir sind eine Bahnhofsmission und keine Content creators.

Frage: Wie haben Sie Ihre Tipps für Obdachlose entwickelt?

Lauscher: Das ist eine Mischung aus gesundem Menschenverstand und unserer professionellen Erfahrung, das, was die Gesetze zum Persönlichkeitsrecht sagen – und ein realistischer Blick auf das, was praktisch überhaupt möglich ist. Wir haben uns natürlich angeschaut, was eigentlich erlaubt ist: Wer darf wen wo filmen, wie darf man das veröffentlichen, was muss vor der Veröffentlichung verfremdet werden, was darf nur mit dem Einverständnis der Abgebildeten gemacht werden …

Frage: Das ist selbst für Menschen, die sich auskennen, ein sehr komplexes Themenfeld!

Lauscher: Ja, und deshalb mussten wir das runterbrechen in eine leichte Sprache und einen Rahmen, der für unsere Klientinnen und Klienten möglichst einfach umzusetzen ist. Wir müssen auch immer die Machtdynamiken mitdenken. Wenn jemand in der Fußgängerzone sitzt und wird gefilmt, will das aber nicht – wenn der dann verlangt, dass man aufhört, aber das macht der andere nicht, und dann wird man lauter: Dann wird irgendwann die Polizei gerufen, und in der Regel verliert dann der Klient oder die Klientin. Obwohl sie etwas verlangen, was ihr gutes Recht ist. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung sind wohnungslose Menschen ohnehin ein Störfaktor im öffentlichen Raum. Uns war es daher wichtig, ihnen etwas an die Hand zu geben, was sie niederschwellig einsetzen können.

Frage: Was raten Sie?

Lauscher: Wir reden mit unseren Klientinnen und Klienten allgemein über diese Trends und konkret darüber, dass sie ein Recht haben, Nein zu sagen. Und dass sie das klar und deutlich artikulieren dürfen – auch in die Kamera. Wenn sich das jemand nicht traut oder das nicht kann, dann kann der Sticker eine Hilfe sein. Den kann man in solchen Fällen sichtbar an der Kleidung anbringen. Das ist ein deutliches Zeichen – und das macht auch das Bildmaterial am Ende unverwertbar. Man kann sich schlecht als Held darstellen, wenn durch so ein deutliches Zeichen klar ist, dass die Person, der man zu helfen vorgibt, damit gar nicht einverstanden ist. Wir betonen auch unseren Klientinnen und Klienten gegenüber, dass Hilfeleistungen niemals an eine Gegenleistung geknüpft sein sollen. Das ist unsere fachliche Haltung, wie wir Menschen unterstützen, und das ist etwas, was auch für alle anderen gelten sollte – alles andere verzweckt die Menschen, denen man angeblich helfen will.

Frage: Und wenn es dann doch passiert ist?

Lauscher: Wenn wir Videos mit Leuten sehen, die wir kennen, fragen wir, ob wir es ihnen zeigen dürfen. Wir fragen nach: Wissen Sie, dass sie da im Netz zu sehen sind? Ist das für Sie in Ordnung? In manchen Fällen von Menschen mit psychischen Erkrankungen arbeiten wir auch mit deren Betreuerinnen und Betreuern zusammen. Aktuell haben wir einen Fall, in dem eine hochgradig psychisch erkrankte Frau betroffen ist. Da haben wir die gesetzliche Betreuerin informiert und sie gebeten, rechtliche Schritte im Sinne ihrer Mandantin zu prüfen.

Wie kommt Ihre Kampagne bei Ihren Klient*innen an?

Lauscher: Es gibt ein paar, die das tatsächlich aktiv machen. Und da funktioniert es. Wir erreichen natürlich nicht alle, da würde ich mir wünschen, dass unsere Kampagne noch breiter angenommen wird. Manchen ist es tatsächlich egal, was mit ihren Aufnahmen passiert. Das muss man akzeptieren, wenn das tatsächlich freiwillig ist. Wir können immer nur beraten und können und wollen niemandem vorschreiben, wie man das zu finden hat. Viele Menschen auf der Straße sind aber aufgrund von psychischen Erkrankungen nicht in der Lage, die Folgen abzuschätzen, was ein Einverständnis gegenüber einem Influencer bedeutet und wie schwer es ist, Material wieder aus dem Netz zu bekommen, wenn es einmal öffentlich ist.

Frage: Wenn ich so eine Situation in der Öffentlichkeit bemerke: Was kann ich tun? Sollte man eingreifen?

Lauscher: Ja. Eindeutig ist es, wenn die Person Nein sagt oder sich vor der Kamera verbirgt. Aufmerksam sollte man auch sein, wenn eine Kamera so gehalten wird, dass die gefilmte Person es nicht merken soll, dass sie gefilmt wird. Wenn man das Gefühl hat, dass auf der Straße jemand etwas mit einem Menschen tut, der das offensichtlich nicht will, dann sollte man eingreifen und die bedrängte Person unterstützen.

Andere Einrichtungen, die die Sticker verwenden wollen, können sich an die Bahnhofsmission Essen wenden. Kontaktdaten sind auf der Webseite der Bahnhofsmission zu finden.

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